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EWS-Standpunkte
08.02.2016
EWS-Standpunkte
Prof. Dr. Otto Sandrock, LL.M. (Yale): Völkerrechtliche Grenzen staatlicher Gesetzgebung

In den letzten beiden Jahrzehnten ist die Debatte über die völkerrechtlichen Grenzen staatlicher Gesetzgebung in einen Dornröschen-Schlaf verfallen. Dies mag darauf zurückzuführen sein, daß die ILA im August 1996 auf ihrer Jahreskonferenz in Helsinki beschlossen hatte, ihre Arbeiten an diesem Gegenstand einzustellen. Denn die Meinungsverschiedenheiten seien im Augenblick (1996) zu groß, um überwunden werden zu können. Spätere Entwicklungen, insbesondere die Schrift von Cedric Ryngaert über Jurisdiction in International Law (2008), fanden deshalb zu wenig Beachtung.

Einige neuere Entwicklungen in der Staatenpraxis lassen diese Thematik heute aber wieder aktuell werden. Dies gilt nicht nur für die geplante europäische Transaktionssteuer, die in Teilen offensichtlich völkerrechtswidrig ist. Auch die US-amerikanischen Behörden haben in den letzten Jahren gegenüber einigen europäischen Unternehmen exorbitant hohe Strafgelder verhängt, zuweilen in Höhe von Milliarden US$. Dabei stützen die US Behörden ihre Entscheidungen auf die Verletzung vor allem ihres Foreign Corrupt Practices Act und ihrer Export Control Laws. Diese Staatenpraxis wirft die Frage auf, ob sie mit dem Völkerrecht vereinbar ist, insbesondere mit den völkerrechtlichen Grenzen staatlicher Gesetzgebung. Die erwähnte Praxis hat sich für die USA zum einen als große Geldmaschine erwiesen. Zum anderen wurden die USA damit zum the world’s leading prosecutor and jailer (so die New York Times International Weekly im Juni 2015). Die FAZ berichtete zur gleichen Zeit von einem „Zittern vor der [US-amerikanischen] Weltpolizei“. Und das Handelsblatt schrieb im August 2015: „Die USA sind nicht nur die Polizei der Welt. Sie sind längst auch deren Strafverfolger.“ (Die FIFA und Joseph Blatterlassen grüßen.)

Die völkerrechtlichen Bedenken sind berechtigt. Die erwähnte europäische und die US-amerikanische Staatenpraxis dehnen den Geltungsbereich ihrer gesetzlichen Normen in einigen Fällen in unzulässiger Weise extraterritorial aus. Sie verletzen damit diejenigen völkerrechtlichen Schranken, die jeglicher staatlicher Gesetzgebung gesetzt sind. Methodisch lassen sich diese Schranken wie folgt ermitteln: Man muß nur den gemeinsamen Kern, das common core oder das l’acquis commun aller völkerrechtlichen Lehren ermitteln, die man in der völkerrechtlichen Dogmengeschichte findet. Diese vielen Lehren mögen sich zwar in ihren Einzelheiten widersprechen. Deren gemeinsamer Kern läßt sich aber unschwer ermitteln. Die Grundsätze dieses common core stellen u. a. general principles of law recognized by civilized nations im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. d des Statuts des Internationalen Gerichtshofs dar.

Aus ihnen und aus dem Grundsatz ne bis in idem ergibt sich u. a.: Teile der geplanten europäischen Finanztransaktionssteuer verletzen das Völkerrecht. Das Gleiche gilt von einigen Strafgeldern, welche die US-amerikanischen Behörden erhoben haben, wenn diese ohne vorherige Abstimmung mit den Behörden der konkurrierend zuständigen europäischen Staaten ausgesprochen worden sind. Eine Reihe europäischer Unternehmen hatten unter diesen Verletzungen des Völkerrechts zu leiden. Sie waren gezwungen, teilweise immens hohe Strafgelder zu akzeptieren. Davon betroffen waren z. B. die Siemens A.G (teilweise), die französische Total S.A., die niederländische Koninglijke Philips Electronics N.V., die deutsche Daimler A.G., die Allianz S.E. sowie die französische BNP Parisbas S.A. Letztere wurde sogar mit einem Strafgeld von mehr als acht Milliarden US$ (!) belastet. Angesichts dieser Staatenpraxis sind die Vertreter des internationalen Wirtschaftsrechts, insbesondere die Völkerrechtler, dazu aufgerufen, in Zukunft darauf hinzuwirken, daß die völkerrechtlichen Grenzen staatlicher Gesetzgebung strikter als bisher eingehalten werden.

Prof. Dr. Otto Sandrock, LL.M. (Yale), ist Emeritus der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und seit 1995 Rechtsanwalt (of Counsel) bei Orrick Herrington & Sutcliffe, LL.P., in Düsseldorf. Er arbeitet seit Jahrzehnten auf dem Gebiet des Internationalen Wirtschaftsrechts.


Hinweis der Redaktion:
Vgl. die Studie von Sandrock, ZVglRWiss 115 (2016), 1-94 mit Beispielen aus Rechtsprechung und Staatenpraxis, dem methodischen Lösungsweg sowie einem common core dogmengeschichtlich ermittelter Grundsätze (Heft 1/2016 erscheint am 23.22016).

Inhaltverzeichnis:


ZVglRWiss 115(2016), 1-94

I.   Die Problematik  2
II.   Einige aktuelle Beispiele  4
  1. Die europäische Finanztransaktionssteuer  4
  2. Der US-amerikanische FATCA (Foreign Account Tax Compliance Act 2010)  5
  3. Der US-amerikanische Foreign Corrupt Practices Act von 1977 (FCPA)  8
  4. Die US-amerikanischen Export Control Laws 16
III.   Der methodische Weg zur Lösung der Problematik 19
  1. Zwei Fragestellungen völkerrechtlicher Art 19
  2. Die Dogmengeschichte und ihre Bedeutung 20
  3. Ein transatlantischer Konflikt 21
IV.   Ein kurzer Überblick über die Dogmengeschichte 22
  1. Die Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im sog. Lotus-Fall (1927) 22
  2. Der Harvard Research on International Law: Jurisdiction with respect to Crime (1935) 24
  3. Die höchst kontroverse Entwicklung des internationalen Kartellrechts nach dem Zweiten Weltkrieg 25
  4. Das Restatement (Second) of the Foreign Relations Law of the US (1965) 40
  5. F. A. Mann, The Doctrine of Jurisdiction in International Law (1965) 42
  6. Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht: „Territoriale Grenzen der staatlichen Gesetzgebungsgewalt“ (1971) 46
  7. Das Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the US (1986) 47
  8. Symposium of the Committee of the International Law Association on the Legal Aspects of Extraterritorial Jurisdiction speziell zu Exportkontrollnormen 1990) 50
  9. Symposium of the Committee of the International Law Association on the Legal Aspects of Extraterritorial Jurisdiction (allgemeine Fragen 1993) 52
  10. Die 67. Konferenz der International Law Association (Helsinki 1996) 54
  11. Spätere Entwicklungen (Deutschland, Österreich und Schweiz; Vereinigtes Königreich; USA) 56
  12. Cedric Ryngaert, Jurisdiction in International Law (2008) 68
 V.   Bestimmte völkerrechtliche Prinzipien als gemeinsamer Bestandteil (common core) der dogmengeschichtlich ermittelten
Grundsätze
77
  1. Keine einheitliche Regel hinsichtlich der extraterritorialen Geltung aller Arten von staatlichen Normen 77
  2. Die bindende Kraft der völkerrechtlichen Prinzipien zur Begrenzung staatlicher Gesetzgebungsmacht 78
  3. Die hinreichend enge Verbindung eines Staates zu einem bestimmten Sachverhalt (minimal contacts, nexus, genuine link) 79
  4. Das Fehlen eines Rechts des ersten Zugriffs 80
  5. Globale Erwägungen 90
 VI.   Zusammenfassung der Ergebnisse und deren Anwendung 92





 

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