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Wettbewerb
08.02.2023
Wettbewerb
EuGH: Das Gericht erklärt den Beschluss der Europäischen Kommission, mit dem die am internationalen Flughafen von Timişoara gewährten Beihilfen Rumäniens zugunsten von Wizz Air für rechtmäßig erklärt wurden, für nichtig

Das EuG (8. Kammer) hat mit Urteil vom 8. 2. 2023 – Rs. T-522/20; Carpatair SA gegen Europäische Kommission; ECLI:EU:T:2023:51 – entschieden. PM Nr. 24 v. 8.2.2023:

Der Kommission sind bei der Prüfung der Selektivität und der Vorteilhaftigkeit der betreffenden Maßnahmen mehrere Fehler unterlaufen

Der internationale Flughafen von Timişoara (Temesvar) im Westen Rumäniens wird von der Societatea Națională „Aeroportul Internaţional Timişoara - Traian Vuia“ SA (AITTV) betrieben, einer Aktiengesellschaft, deren Aktien zu 80 % vom rumänischen Staat gehalten werden.

Um das erhöhte Verkehrsaufkommen zu bewältigen, das als Folge des Beitritts Rumäniens zur Europäischen Union im Jahr 2007 erwartet wurde, und um die sicherheitsrelevanten Voraussetzungen für den Beitritt zum Schengen-Raum zu erfüllen, erhielt AITTV vom rumänischen Staat eine Finanzhilfe zur Errichtung eines Terminals für Flüge außerhalb des Schengen-Raums und zum Erwerb von Sicherheitseinrichtungen.

Im Rahmen einer Strategie zur Schaffung von Anreizen für Billigfluggesellschaften und zur Erhöhung der allgemeinen Rentabilität des Flughafens schloss AITTV außerdem im Jahr 2008 Vereinbarungen mit der Wizz Air Hungary Légiközlekedési Zrt (im Folgenden: Wizz Air), einer ungarischen Billigfluggesellschaft. In diesen Vereinbarungen wurden die Grundsätze ihrer Zusammenarbeit sowie die allgemeinen Bedingungen für die Nutzung der Flughafeninfrastruktur und -dienstleistungen durch Wizz Air festgelegt (im Folgenden: Vereinbarungen von 2008). Zwei dieser Vereinbarungen wurden im Jahr 2010 durch eine zwischen Wizz Air und AITTV vereinbarte neue Ermäßigungsregelung geändert (im Folgenden: Änderungsvereinbarungen von 2010). Gemäß den Luftfahrthandbüchern von 2007, 2008 und 2010 profitierte Wizz Air auch von Ermäßigungen der Flughafengebühren.

Im Jahr 2010 legte die rumänische Regionalfluggesellschaft Carpatair SA bei der Europäischen Kommission eine Beschwerde ein, mit der sie die Beihilfen beanstandete, die die rumänischen Behörden am internationalen Flughafen von Timişoara zugunsten von Wizz Air gewährt hatten.

Mit Beschluss vom 24. 2. 2020 (im Folgenden: streitiger Beschluss) befand die Kommission zum einen, dass die öffentliche Finanzierung, die AITTV im Zeitraum von 2007 bis 2009 für die Entwicklung des Terminals für Flüge außerhalb des Schengen-Raums, die Verbesserung der Rollbahn und die Erweiterung des Vorfelds sowie für Beleuchtungsausstattung gewährt worden sei, eine staatliche Beihilfe darstelle, die nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV[1] mit dem Binnenmarkt vereinbar sei. Zum anderen stellte die Kommission fest, dass die öffentliche Finanzierung der Entwicklung einer Zufahrtsstraße und von Parkplätzen im Jahr 2007 sowie von Sicherheitseinrichtungen im Jahr 2008, die Flughafengebühren gemäß den Luftfahrthandbüchern von 2007, 2008 und 2010 und die Vereinbarungen von 2008 mit Wizz Air (einschließlich der Änderungsvereinbarungen von 2010) keine staatlichen Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellten.

Die Carpatair SA hat Klage auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses erhoben, soweit die Kommission festgestellt hatte, dass weder die im Luftfahrthandbuch von 2010 verzeichneten Ermäßigungen der Flughafengebühren noch die Vereinbarungen von 2008 in der Änderungsfassung von 2010 (im Folgenden: streitige Maßnahmen) staatliche Beihilfen darstellten. Das Gericht gibt dieser Klage statt und stellt fest, dass der Kommission bei der Prüfung der Selektivität und der Vorteilhaftigkeit dieser Maßnahmen mehrere Rechtsfehler unterlaufen sind.

Würdigung durch das Gericht

Das Gericht weist zunächst das Vorbringen der Kommission zurück, dass die Klage der Carpatair SA unzulässig sei, weil diese Gesellschaft weder befugt sei, auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses zu klagen, noch über ein bestehendes und gegenwärtiges Interesse an der Nichtigerklärung dieses Beschlusses verfüge.

In Bezug auf die Klagebefugnis der Carpatair SA weist das Gericht darauf hin, dass nach Art. 263 Abs. 4 AEUV jede natürliche oder juristische Person gegen eine nicht an sie gerichtete Handlung Klage erheben kann, wenn diese Handlung sie unmittelbar und individuell betrifft oder wenn sich die Klage gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter richtet, die diese Person unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen. Nach Maßgabe dieser differenzierten Voraussetzungen stellt das Gericht fest, dass der die Flughafengebühren betreffende Teil des streitigen Beschlusses einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter darstellt, so dass die gegen diesen Teil gerichtete Klage der Carpatair SA zulässig ist, sofern diese Gesellschaft davon unmittelbar betroffen ist. Da die Vereinbarungen von 2008 und die Änderungsvereinbarungen von 2010 hingegen als individuelle Maßnahmen einzustufen sind, ist die Klage der Carpatair SA, soweit sie sich gegen den diese Vereinbarungen betreffenden Teil des streitigen Beschlusses richtet, nur dann zulässig, wenn diese Gesellschaft dartut, dass sie nicht nur unmittelbar, sondern auch individuell davon betroffen ist.

Was die unmittelbare Betroffenheit der Carpatair SA durch den die Vereinbarungen von 2008 und die Änderungsvereinbarungen von 2010 betreffenden Teil des streitigen Beschlusses anbelangt, weist das Gericht darauf hin, dass eine solche Betroffenheit zwar nicht bereits daraus abgeleitet werden kann, dass dieses Unternehmen am Verwaltungsverfahren vor dem Erlass des streitigen Beschlusses beteiligt war. Da diese Vereinbarungen aber geeignet waren, die Wettbewerbsstellung der Carpatair SA auf den Märkten, auf denen sie mit Wizz Air konkurrierte, spürbar zu beeinträchtigen, hat sie ihre individuelle Betroffenheit in rechtlich hinreichendem Maße nachgewiesen. Diese Feststellung wird durch das Vorbringen, dass die Carpatair SA seit 2013 ihr Geschäftsmodell geändert und ihre Tätigkeiten am internationalen Flughafen von Timişoara eingestellt habe, nicht in Frage gestellt, da bei der Beurteilung der spürbaren Beeinträchtigung auf die Situation abzustellen ist, die vorlag, als die streitigen Maßnahmen gewährt wurden und Wirkung entfalten konnten.

Nach Auffassung des Gerichts betrifft der streitige Beschluss die Carpatair SA auch unmittelbar, da er zum einen unmittelbar ihr Recht berührt, auf dem fraglichen Markt keinem durch die streitigen Maßnahmen verfälschten Wettbewerb ausgesetzt zu sein, und zum anderen die Wirkungen der streitigen Maßnahmen rein automatisch allein aufgrund der Unionsregelung und ohne Anwendung weiterer Durchführungsvorschriften fortbestehen lässt.

Nachdem das Gericht die Zulässigkeit der Klage der Carpatair SA bestätigt hat, stellt es hinsichtlich der Begründetheit fest, dass der streitige Beschluss mehrere Rechtsfehler aufweist, die die Schlussfolgerung betreffen, dass weder die im Luftfahrthandbuch von 2010 verzeichneten Ermäßigungen der Flughafengebühren noch die im Jahr 2008 mit Wizz Air geschlossenen Vereinbarungen in der Änderungsfassung von 2010 staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellten, und zwar mangels Selektivität (bei den Flughafengebühren) bzw. mangels wirtschaftlichen Vorteils für Wizz Air (bei den fraglichen Vereinbarungen).

Was erstens die Selektivität der im Luftfahrthandbuch von 2010 verzeichneten Ermäßigungen der Flughafengebühren betrifft, weist das Gericht darauf hin, dass zwar nur Maßnahmen, durch die ein Vorteil in selektiver Weise gewährt wird, unter den Begriff „staatliche Beihilfe“ fallen, nach der Rechtsprechung aber auch Maßnahmen, die auf den ersten Blick für alle Unternehmen gelten, je nach ihren Wirkungen eine bestimmte Selektivität aufweisen und deshalb als Maßnahmen zur Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige angesehen werden können. Eine solche De-facto-Selektivität kann festgestellt werden, wenn die formellen Kriterien für die Anwendung der Maßnahme zwar allgemein und objektiv formuliert sind, die Maßnahme aber so ausgestaltet ist, dass ihre Auswirkungen eine bestimmte Gruppe von Unternehmen erheblich begünstigen.

Im vorliegenden Fall wurden im Luftfahrthandbuch von 2010 u. a. drei Arten von Ermäßigungen der Flughafengebühren aufgezählt, die für alle Fluggesellschaften galten, die den internationalen Flughafen von Timişoara nutzten oder hätten nutzen können. Die dritte Art von Ermäßigungen sah in diesem Zusammenhang Ermäßigungen von 72 bis 85 % für Flugzeuge mit einem höchstzulässigen Startgewicht von mehr als 70 Tonnen und mehr als 10 000 beförderten Fluggästen pro Monat vor.

Obwohl die drei Arten von Ermäßigungen von verschiedenen Voraussetzungen abhingen und nicht kumulativ anwendbar waren, hat die Kommission ihre Selektivität auf der Grundlage einer gemeinsamen Prüfung verneint.

Insoweit hat sich die Kommission auch nicht zu der Frage geäußert, ob andere Fluggesellschaften als Wizz Air in ihrer Flotte Flugzeuge von geeigneter Größe und mit hinreichender Auslastung hatten, um tatsächlich von der oben genannten dritten Art von Ermäßigungen zu profitieren. Angesichts dieser Feststellungen befindet das Gericht, dass die Kommission einen Rechtsfehler begangen hat, indem sie die Prüfung unterlassen hat, ob die dritte Art von Ermäßigungen für sich genommen aufgrund ihrer Anwendungsvoraussetzungen Wizz Air begünstigte.

Was zweitens die Frage betrifft, ob Wizz Air durch die Änderungsvereinbarungen von 2010 ein wirtschaftlicher Vorteil gewährt wurde, so weist das Gericht darauf hin, dass diese Beurteilung grundsätzlich unter Anwendung des Kriteriums des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers erfolgt. Für die Prüfung der Frage, ob sich der Mitgliedstaat oder die betreffende öffentliche Einrichtung wie ein umsichtiger marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsteilnehmer verhalten hat, sind nur die zum Zeitpunkt der Entscheidung über die fragliche Maßnahme verfügbaren Informationen und vorhersehbaren Entwicklungen relevant. Die Schlussfolgerung, zu der die Kommission im streitigen Beschluss gelangt ist, nämlich dass ein umsichtiger marktwirtschaftlich handelnder Wirtschaftsteilnehmer die Änderungsvereinbarungen von 2010 mit Wizz Air geschlossen hätte, beruhte aber vollständig auf nachträglich entstandenem Beweismaterial, insbesondere auf einem Bericht von 2015.

Insoweit stellt das Gericht klar, dass allein aufgrund des geltend gemachten Umstands, dass dieser Bericht von 2015 auf den beim Abschluss der Vereinbarungen von 2008 verfügbaren Informationen und vorhersehbaren Entwicklungen basierte, nicht davon ausgegangen werden kann, dass er einer Ex-ante-Analyse gleichkommt, die die Einhaltung des Kriteriums des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers belegen könnte.

Zudem ist, auch wenn die ex post rekonstruierten ergänzenden Wirtschaftsanalysen, die von Rumänien und Wizz Air im Verwaltungsverfahren vorgelegt wurden, die beim Abschluss der Vereinbarungen von 2008 gegebenen Umstände erhellen können und von der Kommission zu berücksichtigen sind, gleichwohl festzustellen, dass diese Analysen keine Unterlagen ergänzt haben, die vor dem Abschluss dieser Vereinbarungen erstellt wurden, sondern die einzigen Unterlagen waren, auf die die Kommission ihre Beurteilung der Vereinbarungen von 2008 gestützt hat.

Folglich hat die Kommission nach Auffassung des Gerichts ihre Schlussfolgerung, dass die Vereinbarungen von 2008 und die Änderungsvereinbarungen von 2010 Wizz Air keinen wirtschaftlichen Vorteil verschafft hätten, den sie unter normalen Marktbedingungen nicht erlangt hätte, und daher keine staatliche Beihilfe darstellten, nicht rechtsfehlerfrei begründet.

Aufgrund dieser Erwägungen gibt das Gericht der Klage statt und erklärt den streitigen Beschluss für nichtig, soweit darin festgestellt wird, dass die im Luftfahrthandbuch von 2010 verzeichneten Flughafengebühren und die Vereinbarungen von 2008, einschließlich der Änderungsvereinbarungen von 2010, keine staatlichen Beihilfen darstellten.

 



[1] Nach dieser Bestimmung können Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft.

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