EuG: Das Gericht bestätigt die erweiterten Befugnisse der Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) zum Erlass von Einzelfallentscheidungen über grenzübergreifende Angelegenheiten
Das EuG (2. Kammer) hat mit Urteil vom 15. 2. 2023 – verb. Rs. T-606/20 und T-607/20; Austrian Power Grid AG gegen European Union Agency for the Cooperation of Energy Regulators (ACER); ECLI:EU:T:2023:64, ECLI:EU:T:2023:65 – entschieden. PM Nr. 26 v. 15.2.2023:
So ist die ACER befugt, Vorschläge der Übertragungsnetzbetreiber abzuändern, um ihre Vereinbarkeit mit dem Energierecht der Union zu gewährleisten, ohne dabei an die etwaigen Punkte, über die sich die zuständigen nationalen Regulierungsbehörden einig sind, gebunden zu sein
Die Verordnung 2017/2195 der Europäischen Kommission über den Systemausgleich im Elektrizitätsversorgungssystem[1] sieht die Einrichtung mehrerer europäischer Plattformen für den Austausch von Regelarbeit vor. Zu diesen Plattformen zählen zum einen die europäische Plattform für den Austausch von Regelarbeit aus Frequenzwiederherstellungsreserven mit automatischer Aktivierung (im Folgenden: aFRR-Plattform) und zum anderen die europäische Plattform für den Austausch von Regelarbeit aus Frequenzwiederherstellungsreserven mit manueller Aktivierung (im Folgenden: mFRR-Plattform).[2] Gemäß dem in der Verordnung 2017/2195 vorgesehenen Verfahren[3] legten alle Übertragungsnetzbetreiber (im Folgenden: ÜNB) den nationalen Regulierungsbehörden (im Folgenden: NRB) gemeinsame Vorschläge für eine Methode zur Einrichtung der aFRR- und der mFRR-Plattform zur Genehmigung vor.[4] Auf einen gemeinsamen Antrag der NRB hin entschied die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) gemäß der genannten Verordnung[5] über diese Vorschläge in der geänderten Fassung, die sich aus dem Austausch und den Beratungen zwischen der ACER, den NRB und den ÜNB ergeben hatte. So erließ die ACER zwei Entscheidungen, nämlich eine über die aFRR-Methode und eine über die mFRR-Methode (im Folgenden: Entscheidungen der ACER), denen als Anlage die fraglichen Methoden in der von der ACER geänderten und genehmigten Fassung beigefügt waren.
Austrian Power Grid, die ČEPS, a.s., die Polskie sieci elektroenergetyczne S.A., die Red Eléctrica de España SA, RTE Réseau de transport d’électricité, Svenska kraftnät, die TenneT TSO BV und die TenneT TSO GmbH legten gegen
diese Entscheidungen Beschwerden[6] beim Beschwerdeausschuss der ACER (im Folgenden: Beschwerdeausschuss) ein. Nachdem ihre Beschwerden zurückgewiesen worden waren, erhoben sie beim Gericht zwei Klagen auf Nichtigerklärung der Entscheidungen des Beschwerdeausschusses, soweit sie davon betroffen sind, sowie auf Nichtigerklärung bestimmter Teile der Entscheidungen der ACER und der ihnen beigefügten Methoden.
Diese Klagen werden von der Zweiten erweiterten Kammer des Gerichts abgewiesen. Bei dieser Gelegenheit äußert sich das Gericht zum einen über die Kompetenzverteilung zwischen der ACER und den NRB im Rahmen der Annahme der aFRR- und der mFRR-Methode und zum anderen über die nach der Verordnung 2017/2195 für den Betrieb der aFRR- und der mFRR-Plattform erforderlichen Funktionen.
Würdigung durch das Gericht
Zunächst erklärt das Gericht die Nichtigkeitsklagen für unzulässig, soweit sie sich gegen die Entscheidungen der ACER und deren Anlagen richten. Hierzu weist es darauf hin, dass die Klägerinnen als nicht privilegierte Parteien[7] nach Art. 263 Abs. 5 AEUV und dem Rechtsakt zur Gründung der ACER, d. h. der Verordnung 2019/942,[8] vor dem Gericht nur die Nichtigerklärung der Entscheidungen des Beschwerdeausschusses, nicht aber die Nichtigerklärung der Entscheidungen der ACER und ihrer Anlagen beantragen können. Daher beschränkt sich das Gericht im vorliegenden Fall auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidungen des Beschwerdeausschusses, und zwar insbesondere, soweit damit die Entscheidungen der ACER und die ihnen beigefügten aFRR- und mFRR-Methoden in vollem Umfang bestätigt werden.
Entsprechend dieser vorab getroffenen Feststellung fährt das Gericht mit der Begründetheitsprüfung fort. Als Erstes weist es das Vorbringen der Klägerinnen zurück, dass der Beschwerdeausschuss einen Rechtsfehler begangen habe, indem er die Feststellung unterlassen habe, dass die ACER mit dem Erlass der fraglichen Entscheidungen die Grenzen ihrer Zuständigkeit überschritten habe.
In dieser Hinsicht weist das Gericht darauf hin, dass nach Art. 6 Abs. 10 der Verordnung 2019/942 und Art. 5 Abs. 7 der Verordnung 2017/2195 – jeweils in der beim Erlass der Entscheidungen des Beschwerdeausschusses anwendbaren Fassung – die ACER dafür zuständig ist, Einzelfallentscheidungen zu Regulierungsfragen oder -problemen zu treffen, die sich auf den grenzüberschreitenden Handel oder die grenzüberschreitende Systemsicherheit auswirken, wie dies bei der aFRR- und der mFRR-Methode der Fall ist, sofern, wie im vorliegenden Fall, die NRB einen entsprechenden gemeinsamen Antrag an sie richten. Dem Gericht zufolge geht aus den genannten Vorschriften nicht hervor, dass die Zuständigkeit der ACER auf die Punkte beschränkt wäre, in denen sich die betreffenden Behörden nicht einig sind.
Diese wörtliche Auslegung wird durch den Kontext und die Ziele der Regelung, zu der diese Vorschriften gehören, gestützt. Insoweit geht aus der Begründung der Vorschläge für die Verordnung 2019/942 und die zuvor geltende Verordnung Nr. 713/2009[9] ein klarer Wille des Unionsgesetzgebers hervor, für eine raschere und wirksamere Entscheidungsfindung über grenzübergreifende Fragen zu sorgen, indem die Befugnisse der ACER zum Erlass von Einzelfallentscheidungen in einer Weise erweitert werden, die sich mit der Beibehaltung der zentralen Rolle der NRB im Bereich der Energieregulierung vereinbaren lässt, und zwar im Einklang mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Ferner geht aus der Präambel der Verordnung 2019/942[10] hervor, dass die ACER eingerichtet wurde, um die Regulierungslücke auf Unionsebene zu füllen und zu einem wirksamen Funktionieren des Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkts beizutragen.
Folglich wird durch den Zweck und den Kontext der maßgeblichen Vorschriften der Verordnungen 2019/942 und 2017/2195 sowie durch die spezifischen Umstände des vorliegenden Falles bestätigt, dass die ACER befugt ist, über die Ausarbeitung der aFRR- und der mFRR-Methode zu entscheiden, wenn ein entsprechender gemeinsamer Antrag der NRB vorliegt. Da der ACER eigene Entscheidungsbefugnisse übertragen worden sind, um ihr die Möglichkeit zu geben, ihre Regulierungsaufgaben unabhängig und effizient zu erfüllen, ist es ihr auch gestattet, die Vorschläge der ÜNB abzuändern, um ihre Vereinbarkeit mit dem Energierecht der Union zu gewährleisten, ohne dabei an die etwaigen Punkte, über die sich die zuständigen NRB einig sind, gebunden zu sein.
Daraus folgt, dass der Beschwerdeausschuss der ACER keinen Rechtsfehler begangen hat, indem er bestätigt hat, dass die ACER dafür zuständig ist, über Aspekte der aFRR- und der mFRR-Methode zu entscheiden, die Gegenstand einer Einigung zwischen den NRB sein sollen.
Als Zweites weist das Gericht die Rügen der Klägerinnen zurück, mit denen sie geltend machen, der Beschwerdeausschuss habe einen Rechtsfehler begangen, indem er festgestellt habe, dass die Einbeziehung der Funktion der Kapazitätsverwaltung in die für den Betrieb der aFRR- und der mFRR-Plattform erforderlichen Funktionen den ÜNB nicht durch die ACER vorgeschrieben worden sei, sondern sich unmittelbar aus der Anwendung der Verordnung 2017/2195 ergebe.
Das Gericht stellt vorab klar, dass diese Einbeziehung maßgeblich ist, um zu beurteilen, ob die von den ÜNB ausgearbeiteten Vorschläge die zusätzlichen Anforderungen erfüllen mussten, die nach der Verordnung 2017/2195 gelten,[11] wenn die ÜNB, wie im vorliegenden Fall, beabsichtigen, mehrere Einrichtungen zu benennen, die die verschiedenen erforderlichen Funktionen übernehmen sollen. In dieser Hinsicht weist das Gericht darauf hin, dass die von den ÜNB unterbreiteten Vorschläge für Methoden gemäß dieser Verordnung die Festlegung der für den Betrieb der aFRR- und der mFRR-Plattform erforderlichen Funktionen enthalten müssen.[12] Auch wenn aus der Verordnung 2017/2195 hervorgeht, dass diese Plattformen mindestens die Aktivierungs-Optimierungsfunktion und die ÜNB-Abrechnungsfunktion umfassen müssen,[13] ist nicht ausgeschlossen, dass eine andere Funktion, wie etwa die Kapazitätsverwaltung, ebenfalls als für den Betrieb dieser Plattformen erforderlich angesehen wird, insbesondere wenn die Hinzufügung einer solchen Funktion notwendig erscheint, um eine Grobstruktur dieser Plattform zu gewährleisten, die gemeinsamen Leitungsgrundsätzen und Geschäftsverfahren entspricht.
Eine am Kontext und den Zielen der Verordnung 2017/2195 orientierte Auslegung des Begriffs der für den Betrieb der aFRR- und der mFRR-Plattform „erforderlichen Funktion“ legt nahe, dass es sich dabei um eine Funktion handelt, die sowohl in technischer als auch in rechtlicher Hinsicht notwendig erscheint, um diese Plattformen effizient und sicher einzurichten und zu betreiben.
Die Funktion der Kapazitätsverwaltung entspricht nach Auffassung des Gerichts diesem Erfordernis der Notwendigkeit. In rechtlicher Hinsicht schreibt die Verordnung 2017/2195 den ÜNB nämlich vor, die verfügbare grenzüberschreitende Übertragungskapazität für den Austausch von Regelarbeit oder die Anwendung des Imbalance-Netting-Verfahrens kontinuierlich zu aktualisieren. In technischer Hinsicht ist – wie aus den im vorliegenden Fall ausgearbeiteten Vorschlägen für die aFRR- und die mFRR-Methode hervorgeht – die kontinuierliche Aktualisierung dieser Kapazität, die als Grundlage für die Funktion der Kapazitätsverwaltung dient, ein wesentlicher Beitrag zur Aktivierungs-Optimierungsfunktion. Im Übrigen wurde die Funktion der Kapazitätsverwaltung von den ÜNB selbst in die Plattformen integriert, damit deren Grobstruktur die von der Verordnung 2017/2195 aufgestellten Anforderungen an Effizienz und Sicherheit erfüllt.
Vor allem aufgrund dieser Erwägungen werden die Entscheidungen des Beschwerdeausschusses bestätigt.
[1] VO (EU) 2017/2195 der Kommission vom 23. 11. 2017 zur Festlegung einer Leitlinie über den Systemausgleich im Elektrizitätsversorgungssystem (ABl. 2017, L 312, S. 6).
[2] Art. 20 bzw. Art. 21 der VO 2017/2195.
[3] Art. 20 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 der VO 2017/2195.
[4] Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der VO 2017/2195.
[5] Art. 5 Abs. 7 der VO 2017/2195.
[6] Gemäß Art. 28 der VO (EU) 2019/942 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. 6. 2019 zur Gründung einer Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ABl. 2019, L 158, S. 22).
[7] Privilegierte Parteien sind die in Art. 19 Abs. 1 und 2 der Satzung des Gerichtshofs genannten Parteien, d. h. die Mitgliedstaaten, die Unionsorgane, die Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), die nicht Mitgliedstaaten sind, sowie die in jenem Abkommen genannte EFTA-Überwachungsbehörde.
[8] 34. Erwägungsgrund, Art. 28 Abs. 1 und Art. 29 der VO 2019/942.
[9] VO (EG) Nr. 713/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. 7. 2009 zur Gründung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ABl. 2009, L 211, S. 1).
[10] Zehnter Erwägungsgrund der VO 2019/942, zuvor fünfter Erwägungsgrund der VO Nr. 713/2009.
[11] Art. 20 Abs. 3 Buchst. e Ziff. i bis iii und Art. 21 Abs. 3 Buchst. e Ziff. i bis iii der VO 2017/2195.
[12] Art. 20 Abs. 3 Buchst. c und Art. 21 Abs. 3 Buchst. c der VO 2017/2195.
[13] Art. 20 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 der VO 2017/2195.