EuGH: Polnisches Justizsystem: Ein Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts ist kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht
EuGH (Große Kammer), Urteil vom 21.12.2023 – Rs. C-718/21; L.G. gegen Krajowa Rada Sądownictwa; ECLI:EU:C:2023:1015
PM Nr. 206/2023 v. 21.12.2023: Das Vorabentscheidungsersuchen dieses Spruchkörpers wird daher für unzulässig erklärt.
Angesichts sämtlicher Umstände im Zusammenhang mit der Ernennung der Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des polnischen Obersten Gerichts handelt es sich bei einem Spruchkörper dieser Kammer nicht um ein „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts. Folglich entscheidet der Gerichtshof nicht in der Sache über die von diesem Spruchkörper vorgelegten Fragen.
In Polen müssen Richter, die das Richteramt nach Erreichen des Ruhestandsalters weiter ausüben wollen, eine entsprechende Erklärung bei der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS) abgeben.
Ein Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit ficht den Beschluss der KRS über die Einstellung des Verfahrens betreffend den von ihm gestellten Antrag an. Nach Auffassung der KRS wurde die Erklärung nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Frist abgegeben. Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des polnischen Obersten Gerichts (im Folgenden: Kammer für außerordentliche Überprüfung), die mit dem hiergegen von diesem Richter eingelegten Rechtsbehelf befasst ist, hat sich mit der Bitte um Klarstellungen zu den im Unionsrecht verankerten Grundsätzen der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit an den Gerichtshof gewandt.
In seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die von dieser Kammer gestellten Fragen nicht von einem Organ stammen, das die Eigenschaft eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts hat, wie es das Unionsrecht verlangt. Deshalb erklärt er diese Fragen für unzulässig.
Der Gerichtshof beruft sich zur Begründung dieses Ergebnisses zunächst auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte,[1] in dem für zwei Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Überprüfung bereits entschieden wurde, dass sie kein auf Gesetz beruhendes unabhängiges Gericht sind. Jenes Urteil beruhte auf der Feststellung, dass die Ernennungen der Mitglieder dieser Spruchkörper unter offensichtlicher Verletzung grundlegender nationaler Regelungen betreffend das Verfahren zur Ernennung der Richter erfolgt ist.
Die Umstände der Änderungen bei der Zusammensetzung der KRS im Jahr 2017 haben ihre Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive in Frage gestellt, was Auswirkungen auf ihre Fähigkeit hat, unabhängige und unparteiische Bewerber für Richterstellen beim Obersten Gericht vorzuschlagen. Zudem sind die betreffenden Richter vom Präsidenten der Republik Polen auf der Grundlage eines Beschlusses der KRS ernannt worden, dessen Wirkungen das polnische Oberste Verwaltungsgericht zum Zeitpunkt ihrer Ernennung im Hinblick auf die Prüfung der Rechtmäßigkeit dieses Beschlusses ausgesetzt hatte. Weiter weist der Gerichtshof darauf hin, dass das polnische Oberste Verwaltungsgericht den genannten Beschluss letztlich aufgehoben hat.[2]
Der Gerichtshof stellt die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vom polnischen Obersten Verwaltungsgericht vorgenommenen Würdigungen seiner eigenen Rechtsprechung zu den Voraussetzungen für die Ernennung von Richtern beim polnischen Obersten Gericht gegenüber. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass das Zusammentreffen verschiedener Umstände, die die Ernennung der Richter des Spruchkörpers kennzeichnen, der die Fragen in der vorliegenden Rechtssache gestellt hat, beim Einzelnen berechtigte Zweifel in Bezug auf die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit dieser Richter wecken und das Vertrauen beeinträchtigen kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Einzelnen schaffen muss. Folglich hat dieser Spruchkörper nicht die Eigenschaft eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts.