EuG: Das Gericht weist die Klage von Venezuela gegen die restriktiven Maßnahmen der EU ab
EuG (Große Kammer), Urteil vom 13. 9. 2023 – Rs. T-65/18 RENV; Bolivarische Republik Venezuela gegen Rat der Europäischen Union; ECLI:EU:T:2023:529
PM Nr. 38/2023: In Anbetracht der Beeinträchtigung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie erließ der Rat der Europäischen Union am 13. 11. 2017 restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela.[1] Diese Maßnahmen sahen im Wesentlichen ein Verbot des Verkaufs, der Lieferung, der Weitergabe oder der Ausfuhr von Ausrüstungen, die zur internen Repression verwendet werden können, sowie der Bereitstellung von Diensten im Zusammenhang mit diesen Ausrüstungen und Militärgütern an natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen in Venezuela oder zur Verwendung in Venezuela vor.
Am 6. 2. 2018 erhob Venezuela beim Gericht der Europäischen Union eine Klage auf Nichtigerklärung der Verordnung 2017/2063, soweit ihre Bestimmungen dieses Land betreffen. Später passte Venezuela seine Klage an, damit sie sich auch auf den Beschluss 2018/1656 und die Durchführungsverordnung 2018/1653[2] – Rechtsakte, mit denen der Rat die erlassenen restriktiven Maßnahmen jeweils verlängert und geändert hatte – bezog.
Mit Urteil vom 20. 9. 2019 wies das Gericht die Klage mit der Begründung als unzulässig ab, dass die Rechtsstellung Venezuelas von den streitgegenständlichen Maßnahmen nicht unmittelbar berührt sei.[3] Auf das von Venezuela dagegen eingelegte Rechtsmittel hin hob der Gerichtshof am 22. Juni 2021 das Urteil des Gerichts insoweit auf,[4] als mit ihm die Klage von Venezuela auf Nichtigerklärung der Art. 2, 3, 6 und 7 der Verordnung 2017/2063 für unzulässig erklärt worden war, und verwies die Rechtssache zur Entscheidung über die Begründetheit an das Gericht zurück.
Mit seinem heutigen Urteil weist das Gericht das gesamte von Venezuela zur Stützung seines Antrags auf Nichtigerklärung der Art. 2, 3, 6 und 7 der Verordnung 2017/2063 geltend gemachte Vorbringen zurück.
Erstens hatte Venezuela nach Ansicht des Gerichts kein Recht darauf, vor Erlass der streitgegenständlichen Maßnahmen, bei denen es sich um Maßnahmen mit allgemeiner Geltung handelt, angehört zu werden. Das Recht auf Anhörung gilt nämlich für individuelle Maßnahmen, die gegenüber einer Person getroffen werden, und kann nicht im Rahmen des Erlasses von Maßnahmen mit allgemeiner Geltung geltend gemacht werden.
Außerdem liefe die Anhörung eines Drittlands vor dem Erlass restriktiver Maßnahmen darauf hinaus, den Rat zu verpflichten, Gespräche zu führen, die internationalen Verhandlungen mit diesem Land nahekämen. Dies würde die mit der Verhängung restriktiver Maßnahmen gegenüber diesem Land angestrebte Wirkung – nämlich Druck auf dieses Land auszuüben, um eine Änderung seines Verhaltens herbeizuführen – in ihrem Kern aushöhlen.
Zweitens befindet das Gericht zur Begründungspflicht des Rates, dass die Gesamtlage, die zum Erlass der restriktiven Maßnahmen geführt hat, sowie die mit den Maßnahmen verfolgten Ziele vom Rat umfassend dargelegt wurden und von Venezuela nicht übersehen werden konnten.
Was drittens das Vorbringen zur materiellen Unrichtigkeit der Tatsachenfeststellung und zu einem offensichtlichen Fehler bei der Beurteilung der politischen Lage in Venezuela betrifft, stellt das Gericht zum einen fest, dass sich der Rat bei der Beurteilung der Lage in Venezuela auf glaubwürdige und zuverlässige Informationen gestützt hat und dass Venezuela nicht nachgewiesen hat, dass die geltend gemachten Tatsachen inhaltlich falsch gewesen wären. Zum anderen durfte der Rat davon ausgehen, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verordnung Gewalttaten, übermäßige Gewalteinsätze sowie Menschenrechtsverletzungen und Angriffe auf die Demokratie in Venezuela hinreichend belegt waren und dass die Gefahr der Wiederholung solcher Vorfälle in der Zukunft bestand. Daher konnte der Rat, ohne einen offensichtlichen Beurteilungsfehler zu begehen, zu dem Schluss gelangen, dass in Venezuela Beeinträchtigungen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte stattfanden.
Viertens weist das Gericht das Vorbringen Venezuelas zur Verhängung rechtswidriger Gegenmaßnahmen und zum Verstoß gegen das Völkerrecht zurück. In dieser Hinsicht stellt das Gericht zunächst fest, dass die streitgegenständlichen Maßnahmen keine Gegenmaßnahmen darstellen, da die betreffenden restriktiven Maßnahmen die Voraussetzungen aus dem Entwurf des Artikels über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen, wie er 2001 von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen angenommen wurde, nicht erfüllen. Außerdem weist das Gericht in Anwendung der Rechtsprechung das Argument Venezuelas zurück, wonach der Rat für den Erlass der restriktiven Maßnahmen ohne vorherige Genehmigung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht zuständig sei. Das Gericht führt aus, dass Venezuela die Existenz „einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung“, wonach vor dem Erlass restriktiver Maßnahmen durch den Rat eine vorherige Genehmigung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen einzuholen wäre, nicht nachgewiesen hat. Sodann weist das Gericht das auf einen Verstoß gegen Übereinkünfte der Welthandelsorganisation (WTO) gestützte Vorbringen Venezuelas zurück. Zum einen hat Venezuela nämlich nicht geltend gemacht, dass die angefochtene Verordnung ausdrücklich auf Bestimmungen der WTO-Übereinkünfte verweise, und zum anderen hat Venezuela nicht angegeben, durch welche Handlungen oder bei welcher Gelegenheit die Union mit der angefochtenen Verordnung eine bestimmte, im Rahmen der WTO übernommene Verpflichtung hätte erfüllen wollen. Schließlich weist das Gericht auch das Vorbringen Venezuelas zur Ausübung einer extraterritorialen Zuständigkeit durch den Rat zurück. In dieser Hinsicht stellt das Gericht fest, dass sich die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen gegen Personen und Situationen richten, die in räumlicher oder persönlicher Hinsicht der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten unterliegen. Das Gericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich die Befugnis des Rates zum Erlass restriktiver Maßnahmen in den Kontext autonomer Maßnahmen der Union einfügt, die im Rahmen der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) erlassen werden und die insbesondere die Einhaltung der Pflichten erga omnes partes zur Achtung der Grundsätze sicherstellen sollen, die sich aus dem allgemeinen Völkerrecht und den internationalen Instrumenten universellen oder quasi-universellen Charakters ergeben, insbesondere Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen.
[1] VO (EU) 2017/2063 des Rates vom 13. 11. 2017 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela (ABl. 2017, L 295, S. 21).
[2] Beschluss (GASP) 2018/1656 des Rates vom 6. 11. 2018 zur Änderung des Beschlusses (GASP) 2017/2074 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela (ABl. 2018, L 276, S. 10), und Durchführungsverordnung (EU) 2018/1653 des Rates vom 6. 11. 2018 zur Durchführung der Verordnung 2017/2063 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Venezuela (ABl. 2018, L 276, S. 1).
[3] Urteil vom 20. 9. 2019, Venezuela/Rat, T-65/18.
[4] Urteil vom 22. 6. 2021, Venezuela/Rat, C-872/19 P, vgl. auch PM Nr. 112/21.