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Politiken
22.12.2021
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EuGH: Das Unionsrecht steht der Anwendung einer Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs entgegen, wenn diese in Verbindung mit den nationalen Verjährungsvorschriften eine systemische Gefahr der Straflosigkeit begründet

Der EuGH (Große Kammer) hat mit Urteil vom 21. 12. 2021 – verb. Rs. C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19; PM u.a.; ECLI:EU:C:2021:1034 – entschieden:

1.      Die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung ist für Rumänien in allen ihren Teilen verbindlich, solange sie nicht aufgehoben worden ist. Die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben sollen sicherstellen, dass dieser Mitgliedstaat den in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit beachtet, und sind für diesen Mitgliedstaat in dem Sinne verbindlich, dass er verpflichtet ist, die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, wobei er gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die von der Europäischen Kommission auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte, insbesondere die in diesen Berichten formulierten Empfehlungen, gebührend zu berücksichtigen hat.

2.      Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des am 26. Juli 1995 in Luxemburg unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sowie die Entscheidung 2006/928 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach Urteile im Bereich der Korruption und des Mehrwertsteuerbetrugs, die in erster Instanz nicht von in diesem Bereich spezialisierten Spruchkörpern bzw. in der Berufungsinstanz nicht von Spruchkörpern erlassen wurden, deren Mitglieder sämtlich durch Losentscheid bestimmt wurden, absolut nichtig sind, so dass die betreffenden Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsfälle, gegebenenfalls infolge eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gegen rechtskräftige Urteile, in erster und/oder zweiter Instanz erneut geprüft werden müssen, entgegenstehen, wenn die Anwendung dieser nationalen Regelung oder Praxis geeignet ist, eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten im Allgemeinen zu begründen. Die Verpflichtung, sicherzustellen, dass solche Straftaten Gegenstand wirksamer und abschreckender Strafen sind, entbindet das vorlegende Gericht nicht von der Prüfung der notwendigen Beachtung der in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Grundrechte, ohne dass dieses Gericht einen nationalen Schutzstandard für die Grundrechte anwenden dürfte, der eine solche systemische Gefahr der Straflosigkeit mit sich bringen würde.

3.      Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegenstehen, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive, wie sie diese Bestimmungen verlangen, gewährleistet. Auf der anderen Seite sind diese Bestimmungen des EU-Vertrags und die genannte Entscheidung dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts durch die nationalen Richter ordentlicher Gerichte deren disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen kann.

4.      Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte an Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind und – aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs der Auffassung sind, dass diese Rechtsprechung gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV oder der Entscheidung 2006/928 verstößt.

(Tenor)

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