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Politiken
16.03.2023
Politiken
EuGH: Die erste Klage der Kommission wegen doppelter Vertragsverletzung im Bereich der Luftverschmutzung ist unzulässig

EuGH (3. Kammer), Urteil vom 16. 3. 2023 – Rs. C-174/21; Europäische Kommission gegen Republik Bulgarien; ECLI:EU:C:2023:210

PM-Nr. 47: In dem Ende 2018 an Bulgarien gerichteten Aufforderungsschreiben hat sich die Kommission weder mit der erforderlichen Klarheit darauf berufen noch belegt, dass das Urteil des Gerichtshofs aus dem Jahr 2017, mit dem die erste Vertragsverletzung festgestellt worden war, in der Zwischenzeit noch immer nicht durchgeführt war Die Richtlinie „Luftqualität“[1] verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Grenzwerte für bestimmte Luftschadstoffe in der Umgebungsluft und verlangt, dass die Mitgliedstaaten bei einer Überschreitung Luftqualitätspläne erstellen, um den Zeitraum der Nichteinhaltung so kurz wie möglich zu halten.

Im Urteil Kommission/Bulgarien,[2] das am 5. 4. 2017 verkündet wurde, hat der Gerichtshof entschieden, dass Bulgarien gegen die genannten Verpflichtungen verstoßen hat.[3]

Nach der Verkündung des Urteils Kommission/Bulgarien am 5. 4. 2017 richtete die Kommission am 9. 11. 2018 ein Aufforderungsschreiben gemäß Art. 260 Abs. 1 und 2 AEUV an Bulgarien.[4] In diesem Schreiben stellte die Kommission fest, dass Bulgarien noch immer nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen habe, um die vom Gerichtshof in seinem Urteil aus dem Jahr 2017 festgestellten Vertragsverletzungen abzustellen. Daher forderte sie diesen Mitgliedstaat auf, sich binnen einer in diesem Schreiben festgesetzten Frist (im Folgenden: maßgebender Zeitpunkt), nämlich bis zum 9. 2. 2019, zu äußern und sie über die in der Zwischenzeit möglicherweise erzielten Fortschritte zu informieren.

Da die Antworten Bulgariens die Kommission nicht zufriedenstellten, erhob sie beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 260 Abs. 2 AEUV (im Folgenden: Klage wegen doppelter Vertragsverletzung), um feststellen zu lassen, dass dieser Mitgliedstaat diesem Urteil nicht nachgekommen sei, und ihn zur Zahlung eines Pauschalbetrags und eines täglichen Zwangsgelds bis zur vollständigen Durchführung des Urteils des Gerichtshofs verurteilen zu lassen.

Würdigung durch den Gerichtshof

In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die Versendung eines Aufforderungsschreibens im Rahmen eines Vorverfahrens nach Art. 260 Abs. 2 AEUV voraussetzt, dass sich die Kommission mit Erfolg auf einen Verstoß gegen die Verpflichtung, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben, berufen kann; anderenfalls würden die Anforderungen der Rechtssicherheit missachtet. In Anbetracht der Tatsache, dass eine Klage wegen doppelter Vertragsverletzung einen säumigen Mitgliedstaat veranlassen soll, ein Vertragsverletzungsurteil durchzuführen, betont der Gerichtshof, dass die Kommission nicht nur während des gesamten Vorverfahrens und vor der Versendung des Aufforderungsschreibens prüfen muss, ob das fragliche Urteil in der Zwischenzeit durchgeführt worden ist oder nicht, sondern auch verpflichtet ist, in diesem Aufforderungsschreiben auf den ersten Blick klar zu belegen und sich darauf zu berufen, dass das Urteil zum maßgebenden Zeitpunkt noch immer nicht durchgeführt worden sei. Einem Mitgliedstaat kann nämlich nicht mit Erfolg vorgeworfen werden, gegen die Verpflichtung verstoßen zu haben, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus einem Urteil des Gerichtshofs ergeben, wenn aus dem Aufforderungsschreiben nicht klar hervorgeht, dass zum maßgebenden Zeitpunkt die Verpflichtung zur Durchführung dieses Urteils seit seiner Verkündung noch immer fortbesteht.

Im vorliegenden Fall weist der Gerichtshof darauf hin, dass sich die Kommission im Aufforderungsschreiben vom 9. November 2018 weder mit der erforderlichen Klarheit darauf berufen hat noch auf den ersten Blick belegt hat, dass das Urteil vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien, zum maßgebenden Zeitpunkt, d. h. am 9. Februar 2019, noch durchgeführt werden musste.

In diesem Schreiben weist die Kommission nämlich darauf hin, dass die in diesem Urteil bis 2014 festgestellten Vertragsverletzungen für die in diesem Schreiben genannten Gebiete und Ballungsräume in den Jahren 2015 und 2016 fortgedauert hätten. Sie liefert jedoch weder eingehendere Erläuterungen noch eine Tatsachenanalyse mit der Angabe, dass sich die in diesen beiden Jahren festgestellte Situation in der Zeit zwischen der Verkündung des Urteils am 5. April 2017 und dem maßgebenden Zeitpunkt, dem 9. Februar 2019, nicht deutlich verbessert habe, weshalb die Ergreifung von Maßnahmen zur Durchführung dieses Urteils erforderlich sei.

Weder der Umstand, dass diese Vertragsverletzungen zwischen dem Ende des Zeitraums, auf den sich das Urteil des Gerichtshofs erstreckt, also dem Jahr 2014, und einem nachfolgenden, aber vor dem Tag der Verkündung des Urteils liegenden Zeitraum, nämlich in den Jahren 2015 und 2016, fortgedauert haben, noch der vom Gerichtshof in diesem Urteil festgestellte systematische und andauernde Charakter dieser Vertragsverletzungen bedeuten jedoch automatisch, dass das Urteil sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung dieses Urteils als auch zum maßgebenden Zeitpunkt noch durchgeführt werden musste und somit Bulgarien vorgeworfen werden durfte, nicht alle Maßnahmen ergriffen zu haben, die sich aus diesem Urteil ergeben.

Daher hat sich die Kommission dadurch, dass sie sich im Aufforderungsschreiben nicht mit der erforderlichen Klarheit darauf berufen und auf den ersten Blick die Grundvoraussetzung belegt hat, dass das Urteil vom 5. April 2017, Kommission/Bulgarien, zum maßgebenden Zeitpunkt in Bezug auf die in diesem Schreiben genannten Gebiete und Ballungsräume noch durchgeführt werden musste, nicht mit Erfolg darauf berufen, dass Bulgarien gegen die Verpflichtung verstoßen hat, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus diesem Urteil ergeben. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Klage der Kommission wegen doppelter Vertragsverletzung unzulässig ist. 



[1] Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. 5. 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa (ABl. 2008, 152, S. 1).

[2] Urteil vom 5. 4. 2017, Kommission/Bulgarien, C-488/15.

[3] Insbesondere die Verpflichtungen aus Art. 13 Abs. 1 und Anhang XI der Richtlinie 2008/50 sowie aus Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie.

[4] Nach Art. 260 Abs. 1 und 2 AEUV hat ein Mitgliedstaat, bei dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass er gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben, wobei die Kommission, wenn sie der Auffassung ist, dass solche Maßnahmen nicht getroffen worden seien, den Gerichtshof anrufen kann, nachdem sie dem betroffenen Mitgliedstaat zuvor Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat.

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