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Politiken
09.05.2018
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EuGH: Ein Antrag auf Familienzusammenführung ist auch dann zu bearbeiten, wenn er von einem Drittstaatsangehörigen, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde, zum Zweck der Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger gestellt wird, der nie von seinem Recht

Der EuGH (Große Kammer) hat mit Urteil vom 8. 5. 2018 – Rs. C-82/16, K. A., M. Z., M. J., N. N. N., O. I. O., R. I., B. A. gegen Belgische Staat, ECLI:EU:C:2018:308 – wie folgt entschieden:

1. Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 12. 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, insbesondere deren Art. 5 und 11, ist dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde.

2. Art. 20 AEUV ist wie folgt auszulegen:

– Er steht einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegen, die darin besteht, dass ein solcher Antrag allein aus dem genannten Grund nicht bearbeitet wird, ohne dass geprüft worden wäre, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, de facto zwingen würde, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde.

– Bei einem erwachsenen Unionsbürger kommt ein Abhängigkeitsverhältnis, das geeignet ist, die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach dieser Vorschrift gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen zu rechtfertigen, nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden darf, von dem sie abhängig ist.

– Bei einem minderjährigen Unionsbürger muss der Beurteilung des Bestehens eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung an jeden Elternteil und des Risikos, das für sein inneres Gleichgewicht mit der Trennung von dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit verbunden wäre. Zur Feststellung eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses reicht weder das Bestehen einer familiären Bindung an den Drittstaatsangehörigen, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, aus, noch ist ein Zusammenleben mit ihm erforderlich.

– Es ist unerheblich, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das der Drittstaatsangehörige zur Stützung seines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung geltend macht, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde.

– Es ist unerheblich, dass die Entscheidung, mit der gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt wird, bereits bestandskräftig war, als er seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte.

– Es ist unerheblich, dass die Entscheidung, mit der ein Einreiseverbot gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt wird, der einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gestellt hat, damit gerechtfertigt wird, dass einer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen worden sei. Wurde eine solche Entscheidung mit Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt, können diese nur dann dazu führen, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach diesem Artikel zu verweigern, wenn sich aus einer konkreten Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Wohls etwaiger betroffener Kinder und der Grundrechte ergibt, dass der Betroffene eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.

3. Art. 5 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, gegen den bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die noch in Kraft ist, eine Rückkehrentscheidung ergeht, ohne dass dabei die in einem nach Verhängung eines solchen Einreiseverbots gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung erwähnten Aspekte seines Familienlebens – insbesondere das Wohl seines minderjährigen Kindes – berücksichtigt werden, es sei denn, der Betroffene hätte diese Aspekte schon früher anführen können.

(Tenor)

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