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Politiken
06.05.2021
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EuGH-Schlussanträge: Nach Ansicht von Generalanwalt Pikamäe muss nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ein nationales Gericht nationale Rechtsvorschriften oder eine Praxis der nationalen Gerichte, ...

... die sein Recht, den Gerichtshof zu befragen, beeinträchtigen, außer Acht lassen

GA PIKAMÄE schlägt im Licht der vorstehenden Erwägungen mit Schlussanträge vom 15. 4. 2021 – Rs. C-564/19; Strafverfahren gegen IS; ECLI:EU:C:2021:292 – dem Gerichtshof vor, dem Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest, Ungarn) wie folgt zu antworten:

1.      Bei nationalen Rechtsvorschriften, nach denen eine Entscheidung über die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens mit einem außerordentlichen Rechtsbehelf zur Vereinheitlichung des nationalen Rechts angefochten werden kann, ist Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass er der Anwendung solcher Vorschriften, die es dem angerufenen übergeordneten Gericht ermöglichen, diese Entscheidung, ohne dass ihre Rechtswirksamkeit hinsichtlich der Aussetzung des Ausgangsverfahrens und der Fortführung des Vorabentscheidungsverfahrens davon betroffen ist, mit der Begründung für rechtswidrig zu erklären, dass die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht erforderlich seien und auf die Feststellung der Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht abzielten, entgegensteht. Der Vorrang des Unionsrechts verpflichtet das nationale vorlegende Gericht dazu, diese Vorschriften und die gerichtlichen Entscheidungen, die ihnen Wirkung verleihen, unangewendet zu lassen.

2.      Die Art. 2, 3 und 5 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie die Mitgliedstaaten dazu verpflichten, Verdächtigen oder beschuldigten Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, die Möglichkeit zuzusichern, die unzureichende Qualität einer Dolmetschleistung als nicht geeignet zu beanstanden, ihnen den Tatvorwurf zur Kenntnis zu bringen und sie in die Lage zu versetzen, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen. Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64 verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht zur Einrichtung eines Registers mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern, die angemessen qualifiziert sind.

3.      Die Richtlinien 2010/64, 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sowie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sind zusammen dahin auszulegen, dass sie der Möglichkeit, einen Angeklagten, der die Sprache des Strafverfahrens nicht spricht oder versteht und von dem sich aufgrund einer unangemessenen Dolmetschleistung nicht feststellen lässt, dass er während der Ermittlungen über den Gegenstand des gegen ihn bestehenden Verdachts bzw. der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet worden ist, in Abwesenheit zu verurteilen, unter Umständen wie den in der Ausgangsrechtssache in Rede stehenden nicht entgegenstehen, sofern der den Angeklagten vertretende Rechtsanwalt die Möglichkeit hat, aufgrund der Verletzung dieses Rechts auf Belehrung und Unterrichtung die Rechtmäßigkeit einer Handlung anzufechten und gegebenenfalls das Verfahren insgesamt in Frage zu stellen. Art. 6 der Richtlinie 2012/13 ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er der Erteilung detaillierter Informationen über den Tatvorwurf an die Verteidigung eines in Abwesenheit abzuurteilenden Angeklagten vor Beginn der gerichtlichen Sachprüfung und vor Eröffnung der Gerichtsverhandlung nicht entgegensteht, sofern der Richter alle erforderlichen Maßnahmen ergreift, um die Wahrung der Verteidigungsrechte und ein faires Verfahren zu gewährleisten.

(Schlussanträge)

 

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