EuGH: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
EuGH (Große Kammer), Urteil vom 5. 9. 2023 – Rs. C-137/21; Europäisches Parlament gegen Europäische Kommission; ECLI:EU:C:2023:625
PM Nr. 130/2023: Die Kommission war nicht verpflichtet, die Befreiung von der Visumpflicht für Staatsangehörige der Vereinigten Staaten wegen mangelnder Gegenseitigkeit im Bereich der Visa auszusetzen
Die Kommission verfügt nämlich über einen politischen Ermessenspielraum bei der Entscheidung, ob eine solche Aussetzung angebracht ist, wenn ein Drittland für Angehörige eines oder mehrerer Mitgliedstaaten eine Visumpflicht einführt
Das Unionsrecht soll im Bereich der Visa eine vollständige Gegenseitigkeit gewährleisten. Somit können grundsätzlich nur Drittstaaten, die allen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Union eine Befreiung von der Visumpflicht gewähren, für ihre eigenen Staatsangehörigen eine solche Befreiung erhalten. Beschließt jedoch ein Drittstaat, der eine solche Befreiung erhalten hat, zu einem bestimmten Zeitpunkt, für Staatsangehörige eines oder mehrerer Mitgliedstaaten eine Visumpflicht vorzusehen, verfügt die Kommission bei der Entscheidung, ob eine Aussetzung dieser Befreiung gerechtfertigt ist, über einen Ermessensspielraum. Sie ist also nicht automatisch verpflichtet, die Befreiung von der Visumpflicht für die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats auszusetzen. Der Gerichtshof weist damit eine Untätigkeitsklage des Europäischen Parlaments gegen die Kommission ab. Das Parlament wollte feststellen lassen, dass die Kommission wegen der Visumpflicht, die die
Vereinigten Staaten bulgarischen, kroatischen, zyprischen und rumänischen Staatsangehörigen auferlegten, für Staatsangehörige der Vereinigten Staaten die Befreiung von der Visumpflicht für Kurzaufenthalte hätte vorübergehend aussetzen müssen.
Die Frage, ob die Staatsangehörigen eines bestimmten Drittlandes beim Überschreiten der Außengrenzen eines Mitgliedstaats im Besitz eines Visums sein müssen, ist auf Unionsebene einheitlich geregelt. Denn der Unionsgesetzgeber – das Europäische Parlament und der Rat – haben eine Verordnung[1] zur Aufstellung einer Liste der Drittländer erlassen, deren Staatsangehörige im Besitz eines Visums sein müssen, sowie einer Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind.
Für den Fall, dass ein Drittstaat, dessen Staatsangehörige von der Visumpflicht befreit sind, beschließen sollte, eine Visumpflicht für Staatsangehörige eines oder mehrerer Mitgliedstaaten einzuführen, sieht die Verordnung einen mehrstufigen „Gegenseitigkeitsmechanismus“ vor, der eine gemeinsame Reaktion auf Unionsebene ermöglicht. Von diesen Reaktionen sind bestimmte an die Kommission delegiert, wie beispielsweise die vorübergehende Aussetzung der Befreiung von der Visumpflicht.
Für Staatsangehörige der Vereinigten Staaten gilt eine solche Befreiung. Da dieses Drittland jedoch für bulgarische, kroatische, zyprische und rumänische Staatsangehörige eine Visumpflicht eingeführt hatte, forderte das Parlament die Kommission im Oktober 2020 – nach einer ähnlichen Aufforderung im Jahr 2017 – auf, diese Befreiung vorübergehend auszusetzen. Nach Ansicht des Parlaments war die Kommission aufgrund der Verordnung dazu verpflichtet. Die Kommission hielt es zu dem damaligen Zeitpunkt für unangebracht, die streitige Befreiung auszusetzen, insbesondere wegen der schädlichen politischen und wirtschaftlichen Folgen, die eine solche Aussetzung für die Union haben könnte. Das hat das Parlament dazu veranlasst, beim Gerichtshof der Europäischen Union eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission zu erheben.
Mit seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof in der Zusammensetzung als Große Kammer die Klage des Parlaments ab.
Denn nach der Verordnung ist die Kommission nicht automatisch verpflichtet, die Befreiung auszusetzen, sondern verfügt insoweit über einen politischen Ermessensspielraum. Dabei hat die Kommission drei Kriterien zu berücksichtigen:
1. das Ergebnis der von dem betroffenen Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen zur Gewährleistung des visumfreien Reiseverkehrs mit dem betreffenden Drittland,
2. die von ihr bei den Behörden des betreffenden Drittlands unternommenen Schritte, insbesondere in den Bereichen Politik, Wirtschaft oder Handel, zur Wiedereinführung oder Einführung des visumfreien Reiseverkehrs für alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten,
3. die Auswirkungen einer Aussetzung der Befreiung von der Visumpflicht auf die Außenbeziehungen der Union und ihrer Mitgliedstaaten zu dem betreffenden Drittland.
Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die Kommission diese drei Kriterien berücksichtigt hatte, bevor sie zu dem Schluss kam, die Befreiung von der streitigen Visumpflicht nicht auszusetzen. Die Kommission hatte in Bezug auf die Beziehungen mit den Vereinigten Staaten insbesondere berücksichtigt, dass die Aussetzung erhebliche negative Auswirkungen in zahlreichen Politikbereichen und Sektoren haben könnte.
Folglich hat die Kommission, ohne das ihr eingeräumte Ermessen zu überschreiten, die Auffassung vertreten, dass sie nicht verpflichtet sei, die Befreiung von der Visumpflicht für Staatsangehörige der Vereinigten Staaten auszusetzen, so dass ihr keine Untätigkeit vorgeworfen werden kann
[1] Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. 11. 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. 2018, L 303, S. 39).