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Steuern
25.01.2023
Steuern
EuG: Der Rat der Europäischen Union hat Zugang zu den in seinen Arbeitsgruppen erstellten Dokumenten zum Gesetzgebungsverfahren über die Änderung der Richtlinie über den Jahresabschluss zu gewähren

Das EuG (10. Erw. Kammer) hat mit Urteil vom 25. 1. 2023 – Rs. T 163/21; Emilio De Capitani gegen Rat der Europäischen Union; ECLI:EU:T:2023:15 entschieden. PM Nr. 15 v. 25.1.2023:

Das Gericht stellt fest, dass keiner der vom Rat angeführten Gründe die Annahme zulässt, dass die Verbreitung

der streitigen Dokumente das betreffende Gesetzgebungsverfahren konkret, tatsächlich und nicht hypothetisch ernstlich beeinträchtigen würde Der Kläger, Herr Emilio Di Capitani, stellte einen Antrag auf Zugang[1] zu bestimmten Dokumenten, die innerhalb der Arbeitsgruppe „Gesellschaftsrecht“ des Rates der Europäischen Union zum Gesetzgebungsverfahren über die Änderung der Richtlinie 2013/34 über den Jahresabschluss[2] ausgetauscht worden waren. Der Rat verweigerte den

Zugang zu bestimmten Dokumenten mit der Begründung, dass ihre Verbreitung den Entscheidungsprozess des Rates im Sinne der Verordnung Nr. 1049/2001[3] ernstlich beeinträchtigen würde. Im Anschluss an einen Zweitantrag des Klägers, der den Zugang zu den nicht verbreiteten Dokumenten betraf, erließ der Rat den angefochtenen Beschluss,[4] mit dem er seine Verweigerung des Zugangs zu den Dokumenten bestätigte.

Die Arbeitsgruppen des Rates sind interne Gremien dieses Organs, die die Arbeiten des Ausschusses der Ständigen Vertreter (AStV) und anschließend der zuständigen ministeriellen Zusammensetzung des Rates vorbereiten.

Im Rahmen der zulässigen Nichtigkeitsklage befasst sich das Gericht mit der Frage des Zugangs zu Dokumenten zu Gesetzgebungsverfahren unter dem noch nie eingenommenen Blickwinkel des Spannungsverhältnisses zwischen den aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union abgeleiteten Grundsätzen der Offenheit und der Transparenz[5] einerseits und der im Sekundärrecht[6] geregelten Ausnahme von der Verbreitung von Dokumenten zum Schutz des Entscheidungsprozesses eines Organs andererseits. Außerdem prüft das Gericht erstmalig die Bedingungen für den Zugang zu Dokumenten, die durch Arbeitsgruppen des Rates im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens erstellt wurden.

In einem ersten Schritt weist das Gericht das Vorbringen des Klägers zurück, wonach die im Licht des AEU-Vertrags und der Charta ausgelegte Ausnahme in der Verordnung Nr. 1049/2001 zum Schutz des Entscheidungsprozesses nicht für legislative Dokumente gelte.

Da der Grundsatz der Offenheit für die Rechtsordnung der Europäischen Union von grundlegender Bedeutung ist, sind die Grundsätze der Offenheit und der Transparenz den Gesetzgebungsverfahren der Union inhärent.[7] Der Zugang zu legislativen Dokumenten hat daher so umfassend wie möglich zu sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Primärrecht der Union ein unbedingtes Recht auf Zugang zu legislativen Dokumenten vorsieht. Nach dem AEUVertrag[8] wird das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Unionsorgane nämlich nach den durch Verordnung festgelegten allgemeinen Grundsätzen, Einschränkungen und Bedingungen ausgeübt. Die Bestimmungen des AEUVertrags über das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe schließen legislative Dokumente nicht von ihrem Anwendungsbereich aus.

Dieses Ergebnis wird durch den normativen Kontext bestätigt, in dem das Recht auf Zugang zu Dokumenten steht.

Aus dem Primärrecht ergibt sich nämlich, dass der Grundsatz der Offenheit nicht uneingeschränkt gilt.[9] Zudem steht es den Unionsorganen gemäß den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1049/2001 frei, den Zugang zu bestimmten Dokumenten legislativer Art in hinreichend begründeten Fällen zu verweigern.

Das Gericht stellt zunächst entgegen dem Vorbringen des Klägers die Kontinuität des Rechts auf Zugang zu Dokumenten zwischen dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und dem AEU-Vertrag fest und kommt zu dem Ergebnis, dass die in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehene Ausnahme von der Verpflichtung zur Verbreitung eines angeforderten Dokuments in Bezug auf den Schutz des Entscheidungsprozesses des betreffenden Organs nach dem Inkrafttreten des AEU-Vertrags und der Charta anwendbar geblieben ist. Nichts lässt den Schluss zu, dass die Bestimmungen des AEU-Vertrags und der Charta es grundsätzlich ausschließen, den Zugang zu von den Arbeitsgruppen des Rates im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens erstellten Dokumenten mit der Begründung zu verweigern, dass ihre Verbreitung den Entscheidungsprozess des Rates ernstlich beeinträchtigen würde. Zwar schreiben die Bestimmungen des AEUVertrags, wonach der Rat öffentlich tagt, wenn er über Entwürfe eines Gesetzgebungsakts berät oder abstimmt,[10] den Grundsatz der Offenheit der legislativen Erörterungen während der Tagungen des Rates fest, jedoch betreffen diese Bestimmungen weder das Recht auf Zugang zu Dokumenten noch die Einschränkungen und Bedingungen für die Ausübung dieses Rechts.

In einem zweiten Schritt stellt das Gericht fest, dass keiner der vom Rat im angefochtenen Beschluss angeführten Gründe die Annahme zulässt, dass die Verbreitung der streitigen Dokumente das betreffende Gesetzgebungsverfahren konkret, tatsächlich und nicht hypothetisch ernstlich beeinträchtigen würde.

Was zunächst die Begründung mit dem angeblich sensiblen Inhalt der streitigen Dokumente anbelangt, so stellt das Gericht fest, dass sie in Wirklichkeit Kommentierungen und konkrete Textänderungen enthalten, die üblicher Bestandteil des Gesetzgebungsverfahrens sind. Obwohl sich diese Dokumente auf Themen von gewisser Bedeutung beziehen, die sich möglicherweise durch politische und rechtliche Komplexität auszeichnen sowie Ausführungen enthalten könnten, die das Ergebnis „schwieriger Verhandlungen“ gewesen sind und Schwierigkeiten erkennen lassen, die der Rat noch vor der Erzielung einer Einigung zu lösen hatte, nennt der Rat keinen konkreten und spezifischen Aspekt dieser Dokumente, der besonders sensibel in dem Sinne wäre, dass ein grundlegendes Interesse der Union oder der Mitgliedstaaten im Fall der Verbreitung in Frage gestellt worden wäre. Ebenso wenig erläutert er, inwiefern der Zugang zu den streitigen Dokumenten konkret, tatsächlich und nicht hypothetisch die Möglichkeiten ernstlich beeinträchtigen würde, eine Einigung über den fraglichen Gesetzgebungsvorschlag zu erzielen.

Was sodann die Vorläufigkeit der Erörterungen im Rahmen der Arbeitsgruppe des Rates über den fraglichen Gesetzgebungsvorschlag angeht, so kann dieser für sich genommen die Anwendung der Ausnahme zum Schutz des Entscheidungsprozesses nicht rechtfertigen. Diese Ausnahme trifft nämlich keine Unterscheidung nach dem Stand der Erörterungen, sondern erfasst allgemein Dokumente, die sich auf eine Angelegenheit beziehen, in der das betreffende Organ „noch keinen Beschluss gefasst hat“. Da ein Vorschlag seinem Wesen nach dazu dient, erörtert zu werden, ist einer Person, die einen Antrag auf Zugang zu legislativen Dokumenten im Rahmen eines laufenden Verfahrens gestellt hat, vollkommen bewusst, dass die darin enthaltenen Informationen dazu bestimmt sind, im Lauf der Erörterungen im Rahmen der Vorarbeiten der Arbeitsgruppe bis zur Erzielung einer Einigung über den gesamten Text geändert zu werden. Hierin bestand das mit dem Antrag auf Zugang verfolgte Ziel des Klägers, der die von den Mitgliedstaaten im Rat zum Ausdruck gebrachten Standpunkte gerade in Erfahrung bringen wollte, um eine Diskussion über sie auszulösen, bevor der Rat seinen Standpunkt im fraglichen Gesetzgebungsverfahren festlegt.

Im Übrigen hat der Rat keinen greifbaren Nachweis dafür geliefert, dass der Zugang zu den streitigen Dokumenten für die loyale Zusammenarbeit[11] zwischen den Mitgliedstaaten nachteilig gewesen wäre. Da die Organe im Rahmen der Arbeitsgruppen des Rates ihre jeweilige Ansicht zu einem bestimmten Gesetzesvorschlag und die von ihren mitgetragenen Änderungen äußern, ist der Umstand, dass diese Gesichtspunkte anschließend auf einen Antrag hin offengelegt werden, für sich allein nicht geeignet, die loyale Zusammenarbeit zu behindern. In einem System, das auf dem Grundsatz der demokratischen Legitimität beruht, müssen sich die Mitgesetzgeber für ihre Handlungen gegenüber der Öffentlichkeit verantworten und setzt die Ausübung der demokratischen Rechte durch die Bürger die Möglichkeit voraus, den Entscheidungsprozess innerhalb der an den Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe im Einzelnen zu verfolgen und Zugang zu sämtlichen einschlägigen Informationen zu erhalten. Im vorliegenden Fall deutet nichts darauf hin, dass der Rat bei verständiger Betrachtung Druck von außen bzw. eine Reaktion zu befürchten hätte, die über das hinausginge, was ein beliebiges Mitglied eines Gesetzgebungsorgans, das einen Änderungsvorschlag zu einem Gesetzentwurf vorlegt, von der Öffentlichkeit erwarten kann.

Außerdem hat das Organ nur dann, wenn es der Auffassung ist, dass die Verbreitung eines Dokuments den fraglichen Entscheidungsprozess konkret und tatsächlich beeinträchtigen würde, zu prüfen, ob nicht ein überwiegendes öffentliches Interesse trotz allem die Verbreitung des Dokuments rechtfertigt. Der bloße Umstand, dass der Zugang zu bestimmten Dokumenten, die dasselbe Gesetzgebungsverfahren betreffen, gewährt wurde, kann die Verweigerung des Zugangs zu anderen Dokumenten ebenfalls nicht rechtfertigen.

Schließlich kann der Zugang zu den von den Arbeitsgruppen des Rates erstellten Dokumenten nicht wegen ihres angeblich „technischen“ Charakters eingeschränkt werden. Der „technische“ Charakter eines Dokuments ist nämlich kein relevantes Kriterium für die Anwendung der Ausnahme zum Schutz des Entscheidungsprozesses. Die Mitglieder der Arbeitsgruppen des Rates sind mit einem Mandat der von ihnen vertretenen Mitgliedstaaten ausgestattet und äußern bei den Beratungen über einen bestimmten Gesetzgebungsvorschlag den Standpunkt ihres Staates im Rat, wenn der Rat als Mitgesetzgeber tätig wird. Dass die Arbeitsgruppen nicht befugt sind, den endgültigen Standpunkt des Rates festzulegen, bedeutet weder, dass ihre Arbeiten nicht üblicher Bestandteil der Gesetzgebungsverfahren sind, noch, dass die erstellten Dokumente „technischer“ Art sind.

 



[1] Gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43).

[2] Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates (ABl. 2013, L 182, S. 19).

[3] Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1049/2001

[4] Beschluss SGS 21/000067 des Rates der Europäischen Union vom 14. Januar 2021.

[5] Art. 15 AEUV und Art. 42 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

[6] Im Sinne von Art. 4 Abs. 3 der VO Nr. 1049/2001.

[7] Urteil vom 22. 3. 2018, De Capitani/Parlament T-540/15, (vgl. auch Pressemitteilung Nr. 35/18).

[8] Art. 15 Abs. 3 AEUV.

[9] Art. 1 und 10 Abs. 3 EUV sowie Art. 15 Abs. 1 AEUV.

[10] Art. 15 Abs. 2 AEUV.

[11] Art. 4 Abs. 3 EUV.

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