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BB 2022, I
Thüsing 

Arbeitsrecht den Arbeitnehmern!

Abbildung 1

Deutschland sollte sich also gut überlegen, ob es den Richtlinien-Entwurf “Plattformarbeit” unterstützt. Die nationalen Ansätze scheinen hier vielversprechender.

Der Entwurf einer Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit liegt seit dem 9.12. vergangenen Jahres auf dem Tisch (KOM(2021) 762 endg.). Er soll nach dem Willen der Kommission durch Förderung von Transparenz und die korrekte Bestimmung des Arbeitnehmerstatus dazu beitragen, dass Plattformarbeiter in der EU künftig besser sozial abgesichert sind und ihre Arbeitsbedingungen verbessert werden. Das ist sicherlich nicht falsch. Die technische Entwicklung darf nicht zur Aushöhlung arbeitsrechtlicher Schutzstandards führen.

Doch gut gemeint ist nicht gut gemacht. Kernelement des Vorschlags ist es, dass Personen, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiten, leichter in den Schutz des Arbeitsrechts kommen. Dafür enthält der Richtlinienentwurf eine Liste von Kontrollkriterien, mit deren Hilfe festgestellt werden kann, ob es sich bei der Plattform um einen “Arbeitgeber” handelt. Erfüllt die Plattform mindestens zwei der fünf Kriterien, wird im Sinne einer widerlegbaren Vermutung davon ausgegangen, dass sie tatsächlich ein Arbeitgeber ist. Den über die Plattform arbeitenden Personen würden daher die mit dem Arbeitnehmerstatus verbundenen Arbeitnehmerrechte und sozialen Rechte zustehen: Anspruch auf den Mindestlohn (sofern vorhanden), Tarifverhandlungen, geregelte Arbeitszeiten und Gesundheitsschutz, bezahlten Urlaub und verbesserten Zugang zum Schutz vor Arbeitsunfällen, Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit sowie beitragsabhängige Altersrente.

Dieses Konzept ist in zwei Richtungen schlicht übergriffig und verfehlt. Das liegt zunächst am Bezugspunkt der Vermutung. Plattformbeschäftigter ist nach der Definition des Entwurfs “jede Person, die Plattformarbeit leistet und nach den Rechtsvorschriften, Kollektiv- bzw. Tarifverträgen oder Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten einen Arbeitsvertrag hat oder in einem Arbeitsverhältnis steht, wobei die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen ist”. Es wird also nicht schlicht auf den nationalen Arbeitnehmerbegriff abgestellt, sondern auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Der aber hat in der Vergangenheit bei Richtlinien, die sich eindeutig und ausdrücklich auf den nationalen Arbeitnehmerbegriff bezogen, eine erweiternde Kontrollwertung im Hinblick auf die Wahrung des europäischen Arbeitnehmerbegriffs vorgenommen. So hat er Rot-Kreuz-Schwestern zu Arbeitnehmern im Sinne der Leiharbeitsrichtlinie gemacht, obwohl sie nie als Arbeitnehmerinnen im Sinne des deutschen Arbeitsrechts gewertet wurden und die Leiharbeitsrichtlinie ausdrücklich auf den nationalen Arbeitnehmerbegriff abstellt (v. 17.11.2016, Rs. C-216/15). Die Folge ist offensichtlich: Durch die Richtlinie würde für Plattformarbeit der deutsche Arbeitnehmerbegriff, definiert in § 611a BGB, abgelöst durch einen europäischen Begriff. Dafür fehlt dem EuGH die Kompetenz, denn er schafft eine Regelung, die sich in den verschiedenen Staaten ganz ungleich auswirkt: Der deutsche Plattformarbeitnehmer kraft Europarecht hat den Schutz des gesamten deutschen Arbeitsrechts, der niederländische Arbeitnehmer den Schutz des niederländischen Arbeitsrechts. Es geht nicht um die Sicherung europäischer Mindeststandards, sondern die Einbeziehung bestimmter Arbeitnehmergruppen in das jeweils unterschiedliche nationale Arbeitsrecht. Die Folgen sind also in den verschiedenen Mitgliedstaaten ganz unterschiedliche und das ist mit dem Grundsatz der Subsidiarität nicht zu vereinbaren. Und wenn man es dennoch bei der Plattformarbeit zulassen würde: Warum nicht im Arbeitsrecht insgesamt? Die Folgen wären weitreichend, weil ein grundlegender Perspektivenwechsel. Arbeitsrecht den Arbeitnehmern – aber wer Arbeitnehmer ist, das muss in der Hand des nationalen Gesetzgebers und der nationalen Gerichte liegen.

Unglücklicher aber noch ist die darauf bezogene Vermutungsregelung. Mit solchen Regeln hatten wir in der Vergangenheit schlechte Erfahrung gemacht. Es gab sie in den 90er Jahren im Sozialrecht, und man hat sie dann schnell wieder abgeschafft, weil sie zu grob waren und zu Fehlergebnissen führten. Die sind aber auch durch die im Entwurf genannten Kriterien vorprogrammiert. Danach sei der Plattformbetreiber indiziell Arbeitgeber, wenn er die Höhe der Vergütung festlegt oder zumindest Obergrenzen der Vergütung bestimmt, die Ausführung der Arbeit elektronisch überwacht, Möglichkeiten, Arbeits- oder Abwesenheitszeiten frei zu wählen einschränkt, ebenso wie Aufgaben anzunehmen oder abzulehnen oder Unterauftragnehmer oder Ersatzkräfte in Anspruch zu nehmen, Regeln im Hinblick auf äußere Erscheinung oder Verhalten gegenüber dem Kunden formuliert, und schließlich die Möglichkeit, einen Kundenstamm aufzubauen oder Arbeiten für Dritte auszuführen, einschränkt. Wenn nur zwei dieser Kriterien erfüllt sein müssen: Nahezu jeder Plattformmitarbeiter wäre Arbeitnehmer. Die genannten Kriterien aber haben ganz unterschiedliches Gewicht, sie können in ganz unterschiedlichem Maß verwirklicht werden. Die umfassende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls, die das deutsche Arbeitsrecht verlangt und immer verlangt hat, ist damit nicht vereinbar. Zu Recht hatte man bei Normierung des Arbeitnehmerbegriffs in § 611a BGB im Jahr 2017 auf solche – ursprünglich im Referentenentwurf enthaltene Vermutungsregeln – verzichtet.

Das Bundesarbeitsgericht hat sich mit einer Entscheidung im Dezember 2020 (9 AZR 102/20) dem Phänomen Plattformarbeit genähert und einen Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis angestoßen, hier zu einem im deutschen Recht systemkonformen Weg zu kommen. Auch hat das BMAS im vergangenen Jahr “Eckpunkte für Faire Arbeit in der Plattformökonomie” formuliert, deren konkrete Vorschläge ein hilfreicher Ansatz für weitere legislative Schritte sein können. Prüfet alles und behaltet das Gute, mahnt der Apostel Paulus die Gemeinde von Thessaloniki. Das heißt aber auch: Vom nicht so Guten sollte man sich schnell trennen.

Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard), ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn.

 
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