Deutscher Corporate Governance Kodex 2022: Bitte mehr agieren, statt nur zu reagieren!
Die Kodexkommission sollte mehr kreative Freiräume schaffen und neue Impulse setzen
Die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK) setzt erneut aktuelle Regulierungen im Kodex um, doch wo bleiben neue Impulse für eine Corporate Governance, die die Bewältigung aktueller Herausforderungen zu unterstützen vermag?
Nach 2020 erfolgt nur zwei Jahre später eine erneute Überarbeitung des DCGK: Die Kodexkommission hat am 19.5.2022 den finalisierten Vorschlag an das Bundesministerium der Justiz zur Prüfung und Bekanntmachung übersandt. Wieder sprüht die Fassung leider nicht vor neuen Impulsen, sondern es werden vielmehr primär die beschlossenen gesetzlichen Änderungen und die bereits erfolgte bzw. sich abzeichnende Regulierung der Nachhaltigkeitsaspekte (insbes. die Vorschläge zur europäischen Nachhaltigkeitsberichterstattung) eingearbeitet.
So sinnvoll es erscheint, die Nachhaltigkeit stärker zu betonen, so muss doch festgehalten werden, dass bereits jetzt kaum vorstellbar ist, diese in der Unternehmensführung und -überwachung sowie insbes. in den Risiko- und Chancen-Management-Systemen auszublenden. Dabei sendet die Kodexkommission auch widersprüchliche Signale. So wird einerseits in der Präambel die Beachtung der Nachhaltigkeitsaspekte beschränkt mit dem Zusatz “. . . im Rahmen des Unternehmensinteresses.” Andererseits wird in Empfehlung A1 (DCGK 2022) aber auch die Beachtung der ökologischen und sozialen Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit gefordert. Dies ist solange ein Widerspruch, wie die Auswirkungen (Inside-Out-Perspektive) nicht auf das Unternehmen zurückzuschlagen drohen (Outside-In-Perspektive). Es stellt sich ansonsten die Frage, ob es im Unternehmensinteresse sein kann, Auswirkungen zu managen, die gar nicht auf das Unternehmen zurückzuschlagen drohen.
Auch bei der Einbindung der mit dem Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG) neuen gesetzlichen Notwendigkeit, dass ein Prüfungsausschuss einzurichten ist und dass dort mindestens ein Mitglied über Sachverstand auf dem Gebiet Rechnungslegung und mindestens ein weiteres Mitglied des Prüfungsausschusses über Sachverstand auf dem Gebiet Abschlussprüfung verfügen muss, erschöpft sich neben der Empfehlung der konsequenten Erweiterung auch auf die Nachhaltigkeitsberichterstattung, das die dem Prüfungsausschuss vorsitzende Person über eine dieser beiden Kenntnisse verfügen soll.
Offenbar hat der Gesetz- und Richtliniengeber die Regierungskommission überholt – statt, wie bei der Gründung bezweckt, Impulse für die Weiterentwicklung der Corporate Governance zu setzen, scheint nur noch reagiert zu werden auf die zum Teil überbordende Regulierung der politischen Institutionen, die nicht selten von einem großen Misstrauen den Unternehmen gegenüber geprägt scheint. Dies wird etwa in dem bereits vom deutschen Gesetzgeber beschlossenen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz bzw. der bislang als Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission vorliegenden und offenbar noch einmal deutlich weitreichenderen europäischen Entsprechung deutlich.
Dabei muss die DCGK-Kommission aber insoweit auch in Schutz genommen werden, als der Umgang mit einem Kodex in Deutschland offenbar teilweise wenig verstanden wird. So hat sich – auch unter tätiger Mithilfe der Wissenschaft – die Einschätzung verfestigt, dass eine Abweichung vom Kodex nicht etwa ein Ringen um eine möglichst gute Corporate Governance sein kann, sondern per se verdächtig ist und einem Malus gleichkommt. Daher verwundert es wenig, dass Unternehmen möglichst alle Empfehlungen befolgen, statt sich inhaltlich näher mit der eigenen Corporate Governance auseinanderzusetzen. In einer solchen Konstellation ist es leider nur folgerichtig, wenn dann auch die im Kodex formulierten Empfehlungen letztlich bereits allgemein akzeptiert und wenig innovativ sind.
Fraglich ist nur, ob mit einem derartigen Ansatz die bestehenden Herausforderungen, insbes. die Bekämpfung des Klimawandels und die Umsetzung der weiteren UN-Nachhaltigkeitsziele, die Digitalisierung sowie der demografische Wandel, gemeistert werden können.
Auch wenn die Kodexkommission in Empfehlung A1 (DCGK 2022) explizit die Chancen neben die Risiken stellt, wird doch im Weiteren bei den Instrumenten wieder nur vom internen Kontrollsystem und Risiko-Management-System sowie einem an der Risikolage des Unternehmens ausgerichteten Compliance-Management-System gesprochen, ohne hier klarstellend auch die Chancen explizit mit einzubeziehen. Häufig stellen für Unternehmen nicht wahrgenommene Chancen das zentrale Risiko dar, da stets nur der Status quo verteidigt wird, was aber – Wirtschaft ist eine dynamische Veranstaltung – langfristig kaum sinnvoll ist.
Insgesamt sollte die Kodexkommission mehr kreative Freiräume schaffen und der Überregulierung entgegentreten. Dazu wäre im ersten Schritt die stärkere Wiederbelebung von Anregungen sinnvoll, da deren Nichtbefolgung keine Begründungspflichten auslöst, aber durchaus zu Diskussionen führen könnte. Letztlich muss gute Corporate Governance nicht reguliert, sondern gelebt werden.
Prof. Dr. Stefan Müller ist Inhaber der Professur für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfungswesen, der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg und u. a. wissenschaftlicher Leiter des Arbeitskreises Corporate Governance Reporting der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaftslehre e. V. sowie Fachbeirat der Zeitschrift Corporate Governance.