Die Zwangslizenz als rechtliches Mittel zur Vermeidung von Versorgungsengpässen mit Coronavirus-Impfstoffen?
Stand Oktober 2020 wurde parallel an über 200 Impfstoffen gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 geforscht – davon sind manche erfolgversprechender als andere. Die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna stehen möglicherweise kurz vor der Zulassung. Doch bevor ein Impfstoff an die Bevölkerung verteilt werden kann, muss er nicht nur entwickelt, sondern auch in hinreichenden Mengen produziert werden. Der Entwickler beziehungsweise Hersteller des weltweit ersten seriösen Impfstoffs wird vor einer globalen Nachfrage – derzeit leben schätzungsweise 7,8 Milliarden Menschen auf der Erde – stehen, die er selbst nicht wird decken können. Auch der zweite Entwickler wird die Nachfrage nicht decken können. Nun wird diskutiert, der zu erwartende Impfstoff-Engpass solle über Ausübung von Zwang auf die ersten Impfstoffentwickler gelöst werden, ihre Impfstoffformeln mit anderen Pharmaunternehmen zu teilen. Das deutsche Patentgesetz (PatG) hält hierfür die Zwangslizenz (§ 24 PatG) und die Benutzungsanordnung (§ 13 PatG) bereit. Doch diese Instrumente sind allenfalls teilgeeignet.
1. Impfstoffentwicklung ist teuer, sehr teuer. Es ist nur verständlich, dass die Entwickler, falls ihnen der Durchbruch gelingt, ihre Investitionen schützen wollen. Das übliche Instrument hierzu ist die Anmeldung eines Patents auf den neu entwickelten Wirkstoff, wobei von der Patentfähigkeit der ersten Impfstoffe gegen das Coronavirus auszugehen ist.
2. Mit der Patenterteilung erhält der Patentinhaber ein mit Hilfe von ergänzenden Schutzzertifikaten auf bis zu 25 Jahre verlängerbares Exklusivitätsrecht. Hingegen gibt es grundsätzlich keine Pflicht des Patentinhabers, den patentierten Impfstoff im Gegenzug herzustellen und die inländische Nachfrage zu decken oder an Dritte zu lizensieren – mit zwei Ausnahmen:
a) Verweigert der Patentinhaber einem anderen Pharmaunternehmen eine Lizenz, an der ein öffentliches Interesse besteht, kann der Konkurrent vor dem Bundespatentgericht auf Erteilung einer Zwangslizenz klagen (§ 24 PatG). Ein öffentliches Interesse an einer Impfstofflizenz besteht dann, wenn der Impfstoff den auf dem Markt verfügbaren Impfstoffen überlegen ist. Ob eine hinreichende Marktverfügbarkeit jedoch bereits besteht, wenn der Impfstoffentwickler zwar nach Kräften Impfdosen (unter anderem) für den deutschen Markt herstellt – der Impfstoff also grundsätzlich verfügbar ist –, diese jedoch quantitativ nicht ausreichen, ist rechtlich bislang nicht geklärt.
b) Bei drohenden Versorgungsengpässen von lebenswichtigen Wirkstoffen oder Arzneimitteln kann zudem eine Benutzungsanordnung getroffen werden (§ 13 Abs. 1 S. 1 PatG, § 5 Abs. 2 Ziff. 5 IfSG). Die Benutzungsanordnung wirkt im Ergebnis wie eine Zwangslizenz an das Bundesgesundheitsministerium (BMG), welches dann dritte Pharmaunternehmen zur Herstellung des Impfstoffs unterbeauftragen kann. Der Grundstein für eine solche Benutzungsanordnung hat der Bundestag durch seinen Beschluss gelegt, die Coronavirus-Pandemie als “epidemische Lage von nationaler Tragweite” im Sinne von § 5 Abs. 2 Ziff. 5 IfSG einzustufen. In der Folge ist nun das BMG im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt befugt, eine Benutzungsanordnung zu erlassen. Die Anforderungen sind hier jedoch noch höher als an das öffentliche Interesse im Rahmen der Zwangslizenz; die dortigen Bedenken gelten folglich auch hier.
3. Für die Zeit zwischen Anmeldung und Erteilung eines Impfstoffpatents, die üblicherweise zwei Jahre dauert, stehen die vorstehend beschriebenen patentrechtlichen Zwangsmittel allerdings in Deutschland noch nicht zur Verfügung.
a) Eine Zwangslizenz kann gemäß § 24 Abs. 6 S. 1 PatG nur für ein bereits erteiltes Patent erteilt werden.
b) Auch für Benutzungsanordnungen sieht die herrschende Meinung nur eine Anwendung auf bereits erteilte Patente vor, denn bis zur Patenterteilung gibt es für Zwangsmittel keinen Bedarf. Patentanmeldungen schließen Dritte noch nicht von der Nutzung ihrer Lehre aus. Das patentrechtliche Dürfen hilft jedoch dann nicht, wenn der Impfstoffentwickler die Impfstoffzusammensetzung als Konsequenz des fehlenden Schutzes möglichst bis zur Patenterteilung geheim hält und folglich kein Dritter den Impfstoff zulassen und herstellen kann. Sollte man eine Benutzungsanordnung bereits vor der Patenterteilung für anwendbar erachten, wäre damit indes kein Zeitgewinn verbunden. Denn ob der Patentanmelder als Nebenpflicht einer Benutzungsanordnung zur frühzeitigen Preisgabe seiner Forschungsergebnisse verpflichtet wird, erscheint mindestens fraglich.
4. Einen nicht-patentrechtlichen Lösungsansatz könnte § 5 Abs. 2 Ziff. 4 IfSG bieten. Die Norm ermöglicht es dem BMG “Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln einschließlich Impfstoffen” zu treffen. Dass eine solche Generalklausel geeignet ist, ohne konkretes Gesetz in ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut (wenn auch gegen Zahlung einer Entschädigung) einzugreifen und die Impfstoffentwickler im öffentlichen Interesse zur Preisgabe ihres Know-hows zu verpflichten, dürfte allerdings ebenfalls abzulehnen sein.
5. Ohne weitere Tätigkeit des Gesetzgebers verbleibt jedenfalls für die Zeitspanne von der Patentanmeldung bis zur Patenterteilung Rechtsunsicherheit. Verlorene Zeit, wenn man davon ausgeht, dass die Impfung der gesamten Weltbevölkerung mindestens vier Jahre dauern wird. Ansätze, von Nachahmern geringere Zulassungsvoraussetzungen für deren Impfstoffe zu fordern, um die verlorene Zeit aufzuholen, gehen letztlich zu Lasten der Medikamentensicherheit und einer gerechten, vorausschauenden Lösung.
Dr. Boris Uphoff, (re), RA/FA für gewerblichen Rechtsschutz und Solicitor (England und Wales), ist Partner der internationalen Rechtsanwaltssozietät McDermott Will & Emery und auf Prozessführung spezialisiert.
Daniel Reich, (li) ist Rechtsanwalt in der internationalen Rechtsanwaltssozietät McDermott Will & Emery und auf Prozessführung spezialisiert.