Tarifeinheit durch Tarifzensur?
Nach dem Urteil des BVerfG vom 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15 u. a. (BB 2017, 1789 ff. m. BB-Komm. de Beauregard) verstößt die zentrale Vorschrift des Tarifeinheitsgesetzes, § 4a TVG, insoweit gegen Art. 9 Abs. 3 GG, als Vorkehrungen fehlen, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Abs. 2 S. 2 TVG verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden (Nr. 1 der Urteilsformel). “Strukturell” sei darauf hinzuwirken, dass die Interessen der von der Verdrängung betroffenen Berufsgruppe im Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft “wirksam” berücksichtigt werden (Rn. 203). Welche Vorkehrungen zu treffen sind, sagt das BVerfG nicht. Es verweist den Gesetzgeber auf seinen weiten Gestaltungsspielraum für unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten (Rn. 205).
Strukturell ließe sich zunächst an Vorgaben für die Willensbildung der Mehrheitsgewerkschaft denken. Der Gesetzgeber könnte die Mitglieder der Mehrheitsgewerkschaft, welche der betroffenen Berufsgruppe angehören, mit Minderheitenrechten ausstatten. Etwa könnte er vorsehen, dass diese in den einschlägigen Tarifkommissionen vertreten sein müssen und dort über ein qualifiziertes Stimmrecht verfügen. Damit würde freilich in das durch Art. 9 Abs. 1 GG gesicherte Selbstbestimmungsrecht der Mehrheitsgewerkschaft eingegriffen. Dieses erstreckt sich auf den Willensbildungsprozess. In den Worten des BVerfG: Jede Tarifvertragspartei muss “Herrin des Verfahrens” bleiben, das nach ihrer Satzung die Beteiligung der Mitglieder an wesentlichen Entscheidungen gewährleistet und die Verantwortlichkeit ihrer Organe festlegt. Weder grundrechtlich geschützte Gemeinwohlbelange noch der Schutz von Grundrechten Dritter vermögen einen Eingriff zu rechtfertigen (BVerfG vom 4.7.1995, 1 BvF 2/86 u. a., Rn. 135). Auch ist diese Lösung nicht praktikabel, wenn die potentielle Mehrheitsgewerkschaft keine oder nur wenige Angehörige der Berufsgruppe organisiert, die geschützt werden soll. Für solche Fälle einen “Treuhänder” der Berufsgruppe in die Tarifkommissionen zu entsenden, wäre absurd.
Weiter könnte man eine Beteiligung der Minderheitsgewerkschaft an den Tarifverhandlungen der Mehrheitsgewerkschaft mit der Arbeitgeberseite in Betracht ziehen, etwa indem man das in § 4a Abs. 5 TVG vorgesehene Vortragsrecht auf die Gewerkschaftsseite erweitert. Praktikabel ist das kaum. Weil man nicht weiß, welche Gewerkschaft in welchen Betrieben Mehrheitsgewerkschaft ist, müssten die konkurrierenden Gewerkschaften wechselseitig an allen Tarifverhandlungen teilnehmen können. Auch lässt sich so die geforderte “wirksame” Berücksichtigung der Interessen der Berufsgruppen nicht sicherstellen, weil die Mehrheitsgewerkschaft nicht gehindert wäre, ihre Tarifpolitik gegenüber der Arbeitgeberseite uneingeschränkt durchzusetzen. Wirksam wäre nur ein Vetorecht der Minderheitsgewerkschaft wegen Vernachlässigung der Interessen ihrer Mitglieder, was aber letztlich auf eine Kontrolle der Tarifabschlüsse durch die Gerichte hinausliefe.
Um überhaupt wirksam zu sein, müsste die Nachbesserung an den Tarifverträgen selbst ansetzen. Diese müssten für Berufsgruppen typische Regelungen enthalten. Das betrifft einmal die allgemeinen Arbeitsbedingungen. Ausgleichsregelungen für besonders belastende Arbeit oder den mit der Arbeit verbundenen ständigen Ortswechsel müsste auch der verdrängende Mehrheitstarifvertrag vorsehen. Betroffen ist aber vor allem das Entgelt als zentrales Interesse der Berufsgruppen. Der Mehrheitstarifvertrag müsste für diese nicht nur besondere Gehaltsgruppen vorsehen. Um eine angemessene Berücksichtigung des Entgeltinteresses der Berufsgruppen “wirksam” zu gewährleisten, müsste entweder das Gesetz selbst Vorgaben enthalten, etwa indem es Mindestabstände zum Durchschnittsentgelt festlegt oder die Berücksichtigung typischer Besonderheiten, wie längere Ausbildung, Wartezeiten oder Altersgrenzen vorschreibt. Oder das Gesetz müsste mit einer Generalklausel (“angemessen”) die Berücksichtigung den Arbeitsgerichten überantworten. WeIchen Weg man auch beschreitet: Letztlich müsste den Tarifverträgen der Mehrheitsgewerkschaft die Wirksamkeit insoweit versagt werden, als sie die Interessen der von der Minderheitsgewerkschaft vertretenen Berufsgruppen nicht angemessen berücksichtigen, insbesondere diesen kein ihrer Stellung gerecht werdendes Entgelt zubilligen.
Wie die überstimmten Richter Baer und Paulus richtig gesehen haben (Sondervotum Rn. 24), laufen die vom BVerfG geforderten Vorkehrungen auf eine Angemessenheitskontrolle der Mehrheitstarifverträge hinaus. Der Gesetzgeber steht deshalb vor der Frage, ob das Ziel der Tarifeinheit den Tabubruch hin zur teilweisen Tarifzensur lohnt oder ob er nicht besser mit Baer und Paulus auf die “eigenverantwortlich wahrgenommene Freiheit” der Tarifvertragsparteien vertraut. Gesetzestechnisch ließe sich das einfach erreichen: Der Gesetzgeber müsste nur die vom BVerfG gesetzte Frist zur Nachbesserung (31.12.2018) verstreichen lassen. Dann träte Nichtigkeit von § 4a Abs. 2 S. 2 TVG ein und würden mangels Verdrängungswirkung auch die anderen Vorschriften des Tarifeinheitsgesetzes obsolet.
Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Löwisch, Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und of Counsel der Rechtsanwaltskanzlei KraussLaw in Lahr (Schwarzwald).