Die wettbewerbliche Ordnung der Netzwirtschaften
von Dr. Ulf Böge*
In den 1990er Jahren läutete die Europäische Gemeinschaft auf Initiative der Kommission und maßgeblich unterstützt von einigen Mitgliedstaaten, wie insbesondere Deutschland, die Liberalisierung der bis dahin dem Wettbewerb weitgehend entzogenen netzgebundenen Industrien ein. Zunächst sollten die Telekommunikations- und die Postmärkte, dann auch die Märkte der leitungsgebundenen Energien und der Bahnsektor in den Wettbewerb überführt werden.
Die Reformen der letzten eineinhalb Jahrzehnte haben den Anstoß dafür gegeben, dass sich die netzgebundenen Industrien in Europa und insbesondere in Deutschland grundlegend verändert haben. Die Umbrüche sind umso bemerkenswerter, wenn man sich vor Augen führt, dass die Netzsektoren über viele Jahrzehnte – bei allen technischen Entwicklungen und trotz wirtschaftlicher und politischer Zäsuren – in weitgehend unveränderten Strukturen verharrten. Dies änderte sich mit der Liberalisierung von Grund auf. Im Telekommunikationsbereich setzte, zumindest in wichtigen Teilbereichen, mit der vollständigen Marktöffnung zum Jahresanfang 1998 eine Entwicklung von ungeahnter Dynamik ein. Entscheidend dabei war, dass der Wettbewerb die Innovation in der Branche selbst förderte und so die Voraussetzung für ganze Industriezweige schuf, im internationalen Wettbewerb Schritt halten zu können. Das wäre unvorstellbar, wenn die wirtschaftliche Entwicklung noch heute vom Etat eines Post- und Verkehrsministeriums abhinge. Auch den monopolisierten Strombereich erfasste ab Frühjahr 1998 eine Aufbruchstimmung mit vielversprechenden Ansätzen für die Entwicklung des Wettbewerbs.
Dennoch muss man feststellen, dass der Wettbewerb sich in den liberalisierten Bereichen insgesamt bei weitem nicht so entwickelt hat, wie dies ursprünglich erhofft war. Dies lag und liegt zum einen daran, dass die ehemaligen Monopolunternehmen mit aller Macht ihre beherrschende Marktstellung verteidigen. Zum anderen war aber letztlich auch die Politik – etwa im Bereich der leitungsgebundenen Energien – allzu zögernd, den Wettbewerbsbehörden die notwendigen Instrumente zur Durchsetzung des Wettbewerbs zur Verfügung zu stellen.
In anderen Bereichen, zum Beispiel dem Postsektor, stehen die entscheidenden Schritte zur vollständigen rechtlichen – ganz zu schweigen von der tatsächlichen – Marktöffnung noch aus. Die Liberalisierung ist damit in den vergangenen Jahren ausgesprochen heterogen verlaufen.
Mit der zurzeit diskutierten Novelle des Energiewirtschaftsrechts soll die Strom- und Gas-Regulierung unter das Dach der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post gebracht werden. Dies ist allerdings nicht mit einer einheitlichen regulierungsrechtlichen Behandlung dieser verschiedenartigen Netzindustrien gleichzusetzen, wie es sich mit der feinen spezialgesetzlichen Ausdifferenzierung des Telekommunikationsrechts einerseits und des Energierechts andererseits abzeichnet. Vielmehr droht mit der Erarbeitung detaillierter branchenspezifischer Regulierungsordnungen die Orientierung am allgemeinen Wettbewerbsziel, wie sie die Bezugnahme auf bewährte Begriffe und Kriterien des Kartellrechts bietet – und zwar über alle Branchen hinweg –, in den Hintergrund zu treten.
Ordnungs- und wettbewerbspolitisch ist dies höchst bedenklich, denn die Kernaufgabe der ökonomischen Regulierung ist in allen netzgebundenen Wirtschaftsbereichen dieselbe: Es geht um die Förderung des Wettbewerbs und konkret darum, dass allen Anbietern, die ihre Dienstleistungen auf der Grundlage eines bestehenden Monopolnetzes anbieten wollen, der diskriminierungsfreie Zugang zu diesem Netz gewährt wird. Die Aufgabe der Wettbewerbspolitik und der wettbewerblichen Aufsicht über monopolartige Netzinfrastrukturen lautet: Der Zugang zu den Netzen muss zu angemessenen Entgelten erfolgen, das heißt zu Preisen, die dem Netzinhaber den Betrieb, die Wartung und die erforderliche Modernisierung der Infrastruktur erlauben, ohne ihm jedoch Monopolgewinne und die
Es besteht die Gefahr, dass die Netzindustrien sich durch die spezialgesetzliche Ausdifferenzierung, die dem Brancheninteresse erhebliche Einflussmöglichkeiten bietet, entlang unterschiedlicher Entwicklungslinienauseinander undvomallgemeinen Kartellrecht wegentwickeln. Dieser Tendenz ist offenbar kaum Einhalt zu bieten, wie die jüngsten Pläne zur Etablierung einer Trassenpreisagentur für den Bahnverkehr zeigen.
Wenn man keine Zersplitterung des Wettbewerbsrechts will und einer selektiven Einflussnahme vorbeugen möchte, müsste dagegen das allgemeine Wettbewerbsrecht die Klammer sein, die die Aufsicht über die Netzbereiche inhaltlich und konzeptionell zusammenhält und die Kohärenz bei der Durchsetzung des Wettbewerbsprinzips sicherstellt. Das heißt, es müsste gewährleistet sein, dass – abhängig von der Marktentwicklung – sektorspezifisch geregelte Bereiche letztlich wieder in die allgemeine Wettbewerbsordnung überführt werden.
Die neue EG-Kartellrechtsverordnung veranlasst die deutsche Wettbewerbspolitik, kartellrechtliche Ausnahmebereiche abzubauen, was sich im Entwurf der Siebten GWB-Novelle zeigt. Auch im europäischen Rahmen werden mehr und mehr Bereiche für das Wettbewerbsrecht geöffnet. Der sektorspezifische Ansatz geht in die entgegengesetzte Richtung. Im Sinne der Stringenz der Regulierung und der allgemeinen Geltung des Wettbewerbsprinzips wäre es wünschenswert, wenn im Sinne einer widerspruchsfreien Zielsetzung die Orientierung aller Sektoren an den Grundsätzen des allgemeinen Wettbewerbsrechts erhalten bliebe.
* | Präsident des Bundeskartellamtes. |