EuGH: Das Gericht erklärt die Nachprüfungsbeschlüsse der Kommission, die aufgrund des Verdachts auf wettbewerbswidrige Praktiken mehrerer französischer Unternehmen des Vertriebssektors ergangen sind, teilweise für nichtig
Das EuG hat außerdem am 5.10.2020 in folgenden Rechtssachen entschieden: Intermarché Casino Achats/Kommission (Rs. T-254/17, ECLI:EU:T:2020:459) und Les Mousquetaires und ITM Entreprises/Kommission (Rs. T-255/17, ECLI:EU:T:2020:460)
Die Kommission hat nicht nachgewiesen, dass sie über hinreichend ernsthafte Indizien verfügte, die einen Austausch von Informationen über die künftigen Geschäftsstrategien der Unternehmen vermuten ließen
Nachdem die Europäische Kommission Auskünfte über den Informationsaustausch zwischen mehreren Unternehmen und Unternehmensvereinigungen des Lebensmittel- und NichtLebensmittel-Vertriebssektors erhalten hatte, erließ sie im Februar 2017 eine Reihe von Beschlüssen, mit denen sie anordnete, dass mehrere Gesellschaften Nachprüfungen zu dulden hätten[1] (im Folgenden: Nachprüfungsbeschlüsse). Diese Beschlüsse wurden gemäß Art. 20 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 1/2003 zur Durchführung der Wettbewerbsregeln[2] erlassen, der die Befugnisse der Kommission im Bereich der Nachprüfungen festlegt.
Im Rahmen der Nachprüfungen besuchte die Kommission u. a. die Büros der betreffenden Gesellschaften, wo Kopien des Inhalts des EDV-Materials angefertigt wurden. Angesichts ihrer Vorbehalte gegen die Nachprüfungsbeschlüsse und den Ablauf der Nachprüfungen haben mehrere überprüfte Gesellschaften[3] Nichtigkeitsklagen gegen diese Beschlüsse erhoben. Zur Stützung ihrer Klagen haben die Klägerinnen u. a. eine Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 erhoben und eine Verletzung der Pflicht zur Begründung der Nachprüfungsbeschlüsse sowie eine Verletzung ihres Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung gerügt. Einige Klägerinnen haben außerdem die Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme und des Kopierens von Daten bestritten, die zum Privatleben ihrer Arbeitnehmer und Führungskräfte gehörten, und die Weigerung beanstandet, diese Daten herauszugeben.[4]
Die letztgenannte Rüge in der Rechtssache T-255/17 erklärt das Gericht der Europäischen Union für unzulässig. In seiner Begründung weist es darauf hin, dass jedes Unternehmen insbesondere in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten für den Schutz der von ihm beschäftigten Personen und den Schutz ihrer Privatsphäre Sorge zu tragen hat. So kann sich ein überprüftes Unternehmen veranlasst sehen, bei der Kommission zu beantragen, bestimmte Daten, die die Privatsphäre seiner Arbeitnehmer oder Führungskräfte beeinträchtigen könnten, nicht zu beschlagnahmen, oder bei der Kommission die Herausgabe dieser Daten zu beantragen. Beruft sich also ein Unternehmen auf den Schutz aufgrund des Rechts auf Achtung des Privatlebens seiner Arbeitnehmer oder seiner Führungskräfte, um sich der Beschlagnahme von EDV-Material oder Kommunikationsgeräten und der Kopie der darin enthaltenen Daten zu widersetzen, entfaltet die Entscheidung, mit der die Kommission diesen Antrag ablehnt, Rechtswirkungen gegenüber diesem Unternehmen. Da die Klägerinnen im vorliegenden Fall jedoch vorab keinen Antrag auf Schutz gestellt haben, haben die Beschlagnahme des fraglichen Materials und das Kopieren der in diesem Material enthaltenen Daten nicht zum Erlass einer anfechtbaren Entscheidung führen können, mit der die Kommission einen solchen Schutzantrag, sei es auch nur stillschweigend, abgelehnt hätte. Außerdem ist der Antrag auf Herausgabe der in Rede stehenden privaten Daten nicht hinreichend präzise formuliert gewesen, um der Kommission eine sachgerechte Stellungnahme dazu zu ermöglichen, so dass die Klägerinnen zum Zeitpunkt der Klageerhebung keine Antwort der Kommission erhalten hatten, die eine anfechtbare Handlung hätte darstellen können.
Was die Begründetheit der Klagen angeht, erklärt das Gericht nach einem Hinweis auf die Regeln und Grundsätze für Nachprüfungsbeschlüsse der Kommission im Wettbewerbsrecht und einer Erläuterung dieses Rechtsrahmens die Nachprüfungsbeschlüsse, die Gegenstand der Klagen sind, teilweise für nichtig.
Erstens weist das Gericht die gegen Art. 20 Abs. 1 und 4 der Verordnung Nr. 1/2003 gerichtete Einrede der Rechtswidrigkeit zurück. Diese Bestimmungen betreffen die allgemeine Befugnis der Kommission zur Vornahme von Nachprüfungen bzw. die Verpflichtung der Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, Nachprüfungen zu dulden, wenn sie durch Entscheidung angeordnet werden. Zur Stützung dieser Einrede der Rechtswidrigkeit haben die Klägerinnen in der jeweiligen Rechtssache eine Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf geltend gemacht. In den Rechtssachen T-249/17 und T-254/17 haben sie auch eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit und der Verteidigungsrechte gerügt.
Zur Rüge einer Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf weist das Gericht darauf hin, dass dieses in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantierte Recht Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entspricht, so dass die Bestimmungen der EMRK und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) bei der Auslegung und der Anwendung dieser Bestimmung der Charta[5] berücksichtigt werden müssen. Nach der Rechtsprechung des EGMR hängt das Bestehen eines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf von vier Voraussetzungen ab: Vorliegen einer effektiven gerichtlichen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (Effektivitätsvoraussetzung), die Möglichkeit für den Einzelnen, im Fall einer Unregelmäßigkeit eine angemessene Wiedergutmachung zu erwirken (Voraussetzung der Wirksamkeit), die sichere Zugänglichkeit zum Rechtsbehelf (Voraussetzung der Gewissheit) und eine gerichtliche Kontrolle innerhalb einer angemessenen Frist (Voraussetzung einer angemessenen Frist). Insoweit ergibt sich aus der Prüfung des Gerichts, dass das System zur Kontrolle des Ablaufs der Nachprüfungen, das aus allen den überprüften Unternehmen zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten[6] besteht, diese vier Voraussetzungen erfüllt. Die Rüge der Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf wird daher als unbegründet zurückgewiesen.
Die Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Waffengleichheit und gegen die Verteidigungsrechte wird auf der Grundlage einer ständigen Rechtsprechung zurückgewiesen, wonach die Kommission im Stadium der Voruntersuchung nicht verpflichtet werden kann, die Indizien anzugeben, die die Nachprüfung eines Unternehmens rechtfertigen, das im Verdacht steht, wettbewerbswidrige Praktiken an den Tag zu legen. Eine solche Verpflichtung würde nämlich das durch die Rechtsprechung geschaffene Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Wirksamkeit der Untersuchung und dem Schutz der Verteidigungsrechte des Unternehmens in Frage stellen.
Zweitens weist das Gericht bei der Prüfung des Klagegrundes einer Verletzung der Begründungspflicht darauf hin, dass die Nachprüfungsbeschlüsse die Vermutungen angeben müssen, denen die Kommission nachzugehen beabsichtigt, also was geprüft wird und auf welche Punkte sich die Nachprüfung beziehen soll (Beschreibung der vermuteten Zuwiderhandlung, d. h. der ihrer Ansicht nach relevante Markt, die Art der vermuteten Wettbewerbsbeschränkungen und die Sektoren, die von der angeblichen Zuwiderhandlung erfasst sind). Diese spezifische Begründungspflicht soll zeigen, dass die Nachprüfung gerechtfertigt ist, und es den betroffenen Unternehmen ermöglichen, den Umfang ihrer Mitwirkungspflicht zu erkennen, und zugleich die Verteidigungsrechte wahren. In jeder Rechtssache stellt das Gericht fest, dass die Nachprüfungsbeschlüsse substantiiert erkennen lassen, dass die Kommission der Ansicht war, über hinreichend ernsthafte Indizien zu verfügen, die sie dazu veranlasst haben, wettbewerbswidrige Praktiken zu vermuten.
Was drittens den Klagegrund der Verletzung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung betrifft, weist das Gericht darauf hin, dass der Unionsrichter, um sicherzustellen, dass ein Nachprüfungsbeschluss nicht willkürlich ist, prüfen muss, ob die Kommission über hinreichend ernsthafte Indizien verfügt hat, die eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln durch das betreffende Unternehmen vermuten lassen.
Um diese Prüfung vornehmen zu können, hatte das Gericht die Kommission im Wege prozessleitender Maßnahmen aufgefordert, ihm die Dokumente zu übermitteln, die die Indizien zur Rechtfertigung der Nachprüfungen enthielten, und die Kommission ist dieser Aufforderung fristgerecht nachgekommen. Eine „ergänzende Antwort“ der Kommission, die weitere Dokumente in Bezug auf solche Indizien enthalten hat, ist jedoch als unzulässig zurückgewiesen worden, weil es keine stichhaltige Rechtfertigung für ihre verspätete Vorlage gegeben hat.
In Bezug auf die Form der Indizien, die die Nachprüfungsbeschlüsse gerechtfertigt haben, weist das Gericht darauf hin, dass, wenn die vor einer Nachprüfung gewonnenen Indizien dem gleichen Formalismus unterlägen wie das Sammeln von Beweisen für eine Zuwiderhandlung im Rahmen einer laufenden Untersuchung, die Kommission die für ihre Ermittlungsbefugnisse geltenden Regeln beachten müsste, obwohl noch keine Untersuchung im Sinne der Verordnung Nr. 1/2003[7] eingeleitet worden ist und sie von ihren Ermittlungsbefugnissen keinen Gebrauch gemacht hat, d. h. keine Maßnahme ergriffen hat, die den Vorwurf einer Zuwiderhandlung impliziert, wie ein Nachprüfungsbeschluss. Daher stellt das Gericht entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen fest, dass die Regelung über die Verpflichtung zur Aufzeichnung von Gesprächen[8] vor der Einleitung einer Untersuchung durch die Kommission nicht anwendbar ist. Somit können Gespräche mit Lieferanten, die vor der Einleitung einer Untersuchung geführt wurden, auch dann Indizien darstellen, wenn sie nicht aufgezeichnet wurden. Andernfalls würde nämlich die Aufdeckung wettbewerbswidriger Praktiken durch die abschreckende Wirkung, die eine förmliche Befragung, die aufgezeichnet werden muss, auf die Bereitschaft der Zeugen zur Auskunftserteilung und zur Anzeige von Zuwiderhandlungen haben kann, schwer beeinträchtigt. Außerdem stellen diese Gespräche mit Lieferanten Indizien dar, die der Kommission ab dem Zeitpunkt, zu dem sie stattgefunden haben, und nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem sie Gegenstand eines Protokolls sind, wie die Klägerinnen behaupten, zur Verfügung gestanden haben.
Zum Inhalt der Indizien, die die Nachprüfungsbeschlüsse gerechtfertigt haben, führt das Gericht aus, dass in Anbetracht der notwendigen Unterscheidung zwischen Beweisen für eine abgestimmte Verhaltensweise und Indizien, die Nachprüfungen zum Zweck der Sammlung solcher Beweise rechtfertigen, die Schwelle für die Anerkennung, dass die Kommission im Besitz hinreichend ernsthafter Indizien ist, zwangsläufig niedriger sein muss als diejenige, die es erlaubt, das Vorliegen einer abgestimmten Verhaltensweise festzustellen. Im Licht dieser Erwägungen stellt das Gericht fest, dass die Kommission über hinreichend ernsthafte Indizien verfügt hat, um eine abgestimmte Verhaltensweise in Bezug auf den Informationsaustausch über Rabatte auf den Beschaffungsmärkten für bestimmte Produkte des täglichen Bedarfs und die Preise auf dem Markt für den Verkauf von Dienstleistungen an Hersteller von Markenprodukten zu vermuten. Dagegen gibt das Gericht in Ermangelung solcher Indizien für den Informationsaustausch über die künftigen Geschäftsstrategien der unter Verdacht stehenden Unternehmen dem Klagegrund der Verletzung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung in Bezug auf diese zweite Zuwiderhandlung statt und erklärt daher die Nachprüfungsbeschlüsse teilweise für nichtig.
(PM-Nr. 122/20 vom 5. 10. 2020; EuG, Urteil vom 5. 10. 2020 – Rs. T-249/17; Casino, Guichard-Perrachon und Achats Marchandises Casino SAS (AMC) gegen Europäische Kommission, ECLI:EU:T:2020:458)
[1] In der Rs. T-249/17 geht es um den Beschluss der Kommission vom 9. 2. 2017, mit dem gegenüber Casino, Guichard-Perrachon und allen von ihnen unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Gesellschaften angeordnet wird, eine Nachprüfung zu dulden. In der Rs. T-254/17 geht es um den Beschluss der Kommission vom 9. 2. 2017, mit dem gegenüber Intermarché Casino Achats und allen von ihr unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Gesellschaften angeordnet wird, eine Nachprüfung zu dulden. In der Rs. T-255/17 geht es hauptsächlich um den Beschluss der Kommission vom 21. 2. 2017, mit dem gegenüber Mousquetaires und allen von ihnen unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Gesellschaften angeordnet wird, eine Nachprüfung zu dulden, sowie um den Beschluss der Kommission vom 21. 2. 2017, der an die gleichen Gesellschaften gerichtet war, und hilfsweise um den Beschluss der Kommission vom 9. 2. 2017, mit dem gegenüber Intermarché und allen von ihr unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Gesellschaften angeordnet wird, eine Nachprüfung zu dulden, sowie um den Beschluss der Kommission vom 9. 2. 2017, der an die gleichen Gesellschaften gerichtet war.
[2] VO (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. 12. 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).
[3] Die Klägerinnen sind Casino, Guichard-Perrachon und Achats Marchandises Casino SAS (AMC) (Rs. T-249/17); Intermarché Casino Achats (Rechtssache T-254/17) und Les Mousquetaires und ITM Entreprises (Rs. T-255/17).
[4] Es handelt sich um Mousquetaires und ITM Entreprises in der Rs. T-255/17.
[5] Art. 52 der Charta und Erläuterungen zu diesem Artikel.
[6] Nichtigkeitsklage, Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, Klage wegen außervertraglicher Haftung.
[7] Kapitel V der VO (EG) Nr. 1/2003.
[8] Art. 19 der VO (EG) Nr. 1/2003 und Art. 3 der VO (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. 4. 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Art. [101 und 102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18).