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Wettbewerb
05.12.2023
Wettbewerb
EuGH: Die von der Europäischen Kommission vorgenommene Prüfung der Steuervorbescheide, die Luxemburg der Engie-Gruppe erteilt hatte, hat gegen das Unionsrecht verstoßen

EuGH (Große Kammer), Urteil vom 5. 12. 2023 – Rs. C-451/21 P; Grand-Duché de Luxembourg, Engie Global LNG Holding Sàrl, Engie Invest International SA, Engie SA/Europäische Kommission, Irland; ECLI:EU:C:2023:948

PM Nr. 183/2023 v. 5.12.2023: Die Europäische Kommission hat befunden, dass Luxemburg der Engie-Gruppe im Rahmen von Steuervorbescheiden, die konzerninterne Finanzierungstransaktionen betrafen, staatliche Beihilfen gewährt hatte.

Allerdings ist der Kommission ein Fehler bei der Bestimmung des Referenzrahmens unterlaufen, der den Ausgangspunkt der vergleichenden Prüfung bildet, die bei der Beurteilung der Selektivität dieser steuerlichen Maßnahmen und somit bei ihrer Einstufung als verbotene staatliche Beihilfen durchzuführen ist. Denn das Bezugssystem bzw. die normale Steuerregelung, anhand dessen bzw. deren die Voraussetzung der Selektivität zu prüfen ist, muss die Befreiungsbestimmungen einschließen, die die nationale Steuerverwaltung im gegebenen Fall für anwendbar gehalten hat, wenn diese Bestimmungen, sofern sie keine offenkundige Diskriminierung zwischen Unternehmen einführen, für sich genommen keinen selektiven Vorteil im Sinne des Unionsrechts verschaffen.

Somit kann die Kommission eine Abweichung von einem Referenzrahmen nicht dadurch nachweisen, dass sie sich – wie sie es im vorliegenden Fall getan hat – auf die Feststellung beschränkt, dass eine Maßnahme von einem allgemeinen Ziel der Besteuerung aller in dem betreffenden Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaften abweicht, ohne Bestimmungen des nationalen Rechts zu berücksichtigen, in denen die Modalitäten zur Umsetzung dieses Ziels festgelegt sind.

Mit Beschluss vom 20. 6. 2018[1] stellte die Kommission fest, dass die luxemburgischen Steuerbehörden in Bezug auf komplexe Unternehmens- und Finanzkonstruktionen innerhalb der Engie-Gruppe zwei Reihen von Steuervorbescheiden (tax rulings) erlassen hatten. Ihrer Ansicht nach hat diese steuerliche Behandlung es der EngieGruppe ermöglicht, dass nahezu alle von den Tochtergesellschaften in Luxemburg erzielten Gewinne unversteuert geblieben seien. Sie kam zu dem Schluss, dass diese Steuervorbescheide staatliche Beihilfen darstellten, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar und durch die luxemburgischen Behörden bei ihren Empfängern zurückzufordern seien.

Das von der Engie-Gruppe und Luxemburg angerufene Gericht der Europäischen Union hat ihre Klagen abgewiesen.[2] Engie und Luxemburg haben daraufhin beim Gerichtshof Rechtsmittel eingelegt.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Kommission für die Feststellung, dass eine nationale Maßnahme eine staatliche Beihilfe darstellt, insbesondere dartun muss, dass sie ihrem Empfänger einen selektiven Vorteil verschafft. Um eine steuerliche Maßnahme als „selektiv“ einzustufen, muss sie zunächst das Bezugssystem, d. h. die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende „normale“ Steuerregelung, ermitteln. Sodann muss die Kommission dartun, dass die in Rede stehende Maßnahme von diesem Bezugssystem abweicht, weil sie Unterscheidungen zwischen Unternehmen einführt, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden.

Die fraglichen Bestimmungen des luxemburgischen Rechts machen die Steuerbefreiung für Beteiligungserträge auf der Ebene der Muttergesellschaft nicht ausdrücklich von der Besteuerung der ausgeschütteten Gewinne auf der Ebene ihrer Tochtergesellschaft abhängig. Dies war die von Luxemburg vorgetragene Auslegung dieser Bestimmungen. Im vorliegenden Fall ist die Kommission von dieser Auslegung abgewichen, da sie die Ansicht vertrat, dass sie mit dem allgemeinen Ziel der Besteuerung aller ansässigen Gesellschaften nicht vereinbar sei. Der Gerichtshof stellt allerdings fest, dass die Kommission grundsätzlich gehalten ist, die im Rahmen der kontradiktorischen Erörterung durch den Mitgliedstaat angegebene Auslegung der Bestimmungen des nationalen Rechts zu akzeptieren, sofern diese Auslegung mit dem Wortlaut dieser Bestimmungen vereinbar ist. Im vorliegenden Fall hat die Kommission nichts vorgetragen, was die von Luxemburg vertretene Auslegung entkräften würde, die im Übrigen mit dem Wortlaut dieser Bestimmungen vereinbar ist. Daher hat das Gericht zu Unrecht die Feststellung der Kommission bestätigt, dass zwischen diesen beiden steuerlichen Behandlungen ein solcher Bedingungszusammenhang bestehe.

Zudem hat das Gericht zu Unrecht befunden, dass die Kommission die Verwaltungspraxis der luxemburgischen Steuerbehörden zu einer nationalen, den Rechtsmissbrauch betreffenden Bestimmung nicht berücksichtigen musste. Denn zur Stützung ihres Beschlusses hätte die Kommission nachweisen müssen, dass die luxemburgische Steuerverwaltung in den fraglichen Steuervorbescheiden von ihrer eigenen Praxis bei Vorgängen abgewichen ist, die mit den in Rede stehenden vergleichbar sind.

Schließlich befindet der Gerichtshof, der selbst über die Nichtigkeitsklagen entscheidet, dass der Kommission in ihren verschiedenen Prüfungen der Referenzrahmen, mit denen das normale Besteuerungssystem festgelegt wird, Fehler unterlaufen sind. Insbesondere würde die Zuständigkeit und die Steuerautonomie der Mitgliedstaaten auf den im Unionsrecht nicht harmonisierten Gebieten verkannt, wenn die Kommission einen Referenzrahmen ausschließlich auf der Grundlage des vom nationalen Recht verfolgten allgemeinen Ziels der Besteuerung aller ansässigen Gesellschaften festlegen könnte und somit in diesen Rahmen insbesondere Bestimmungen über Steuerbefreiungen nicht aufnehmen würde. Aufgrund dieser Fehler wurde die gesamte Prüfung der Selektivität fehlerhaft, und daher wird der Beschluss der Kommission für nichtig erklärt.



[1] Beschluss (EU) 2019/421 der Kommission vom 20. 6. 2018 über die von Luxemburg durchgeführte staatliche Beihilfe SA.44888 (2016/C) (ex 2016/NN) zugunsten von Engie.

[2] Urteil vom 12. 5. 2021, Luxembourg u. a./Kommission, T-516/18 und T-525/18 (vgl. PM Nr. 80/21).

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