EuGH: Programm Galileo: Die Klage von OHB System gegen die Vergabe des Auftrags für Übergangssatelliten an Thales Alenia Space Italia und an Airbus Defence & Space wird abgewiesen
EuGH, Urteil vom 26. 4. 2023 – Rs. T-54/21; OHB System AG gegen Europäische Kommission; ECLI:EU:T:2023:210
PM Nr. 66/2023: Das Gericht stellt fest, dass die Kommission nicht verpflichtet war, eingehende Untersuchungen zu den von OHB System gegen Airbus Defence & Space erhobenen Vorwürfen anzustellen Mit Auftragsbekanntmachung vom 15. 5. 2018,[1] leitete die im Namen und im Auftrag der Kommission handelnde Europäische Weltraumorganisation (ESA) ein Vergabeverfahren für die Beschaffung von Übergangssatelliten im Rahmen des Galileo-Programms ein, mit dem ein europäisches System für die satellitengestützte Navigation und Positionsbestimmung für zivile Zwecke aufgebaut und betrieben werden soll. Dieses Verfahren wurde in der Form des wettbewerblichen Dialogs eingeleitet, da die Kommission ihren Bedarf bereits ermittelt und festgelegt hatte, aber noch nicht die genauen zu dessen Deckung am besten geeigneten Mittel. Die ESA war mit der Durchführung des Vergabeverfahrens betraut, während die Kommission der öffentliche Auftraggeber blieb.[2] Es war beschlossen worden, dass zwei Auftragnehmer ausgewählt werden konnten und dass der Zuschlag für den Auftrag dem wirtschaftlich günstigsten Angebot erteilt werden sollte.
Nach Abschluss der ersten Phase des wettbewerblichen Dialogs, in der eine Aufforderung zur Einreichung eines Teilnahmeantrags erging, wählte die ESA drei Bieter aus: die OHB System AG (die Klägerin), die Airbus Defence and Space GmbH (im Folgenden: ADS) und Thales Alenia Space Italia (im Folgenden: TASI). Im Anschluss an die zweite Phase, die zur Ermittlung und Festlegung der Mittel für die Erfüllung des Bedarfs des öffentlichen Auftraggebers diente, und die dritte Phase, in der die ESA die Bieter aufforderte, ihr „endgültiges Angebot“ abzugeben, wurden die endgültigen Angebote von einem Evaluierungsausschuss evaluiert, der seine Ergebnisse in einem Evaluierungsbericht darstellte. Auf der Grundlage dieses Berichts beschloss die Kommission, den Zuschlag nicht dem Angebot der Klägerin zu erteilen, sondern den Angeboten von TASI und ADS (im Folgenden: angefochtene Beschlüsse); die angefochtenen Beschlüsse wurden der Klägerin mit Schreiben vom 19. 1. 2021 übermittelt.
Vor Erlass der angefochtenen Beschlüsse hatte die Klägerin der Kommission und der ESA mit Schreiben vom 23. 12. 2020 mitgeteilt, dass einer ihrer ehemaligen Mitarbeiter, und zwar der mit weitreichendem Zugang zu den Projektdaten ausgestattete und an der Vorbereitung ihres Angebots beteiligt gewesene Chief Operating Officer (Manager für das operative Geschäft), im Dezember 2019 von ADS eingestellt worden sei. Sie machte geltend, es gebe Anhaltspunkte dafür, dass der ehemalige Mitarbeiter sensible Informationen erlangt habe; aufgrund einer von ihr erstatteten Strafanzeige sei gegen ihn ein nationales strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.
Sie ersuchte die Kommission daher, den streitigen wettbewerblichen Dialog auszusetzen, eine Untersuchung durchzuführen und ADS gegebenenfalls von dem Dialog auszuschließen. Mit Schreiben vom 20. Januar 2021 teilte die Kommission der Klägerin mit, dass keine ausreichenden Gründe für eine solche Aussetzung vorlägen und dass kein Anlass bestehe, ADS von dem streitigen wettbewerblichen Dialog auszuschließen, da ihre Vorwürfe Gegenstand einer Untersuchung durch die nationalen Behörden seien, die nicht zu einer rechtskräftigen Gerichts- oder einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung geführt habe.
Das Gericht, das die bei ihm erhobene Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Beschlüsse in vollem Umfang abweist, macht u. a. Ausführungen zur Anwendung der Kriterien für den Ausschluss eines Bieters und zur Befassung des Gremiums gemäß der Haushaltsordnung von 2018.[3] Desgleichen macht es Ausführungen zu der Pflicht, die Einzelposten eines als ungewöhnlich niedrig eingestuften Angebots zu überprüfen, und zur Eigenständigkeit der Zuschlagsentscheidung in Fällen, in denen der öffentliche Auftraggeber sich lediglich die Begründung des Evaluierungsberichts zu eigen macht.
Würdigung durch das Gericht
Als Erstes weist das Gericht die Rüge eines Verstoßes gegen die in der Haushaltsordnung von 2018 vorgesehenen Kriterien für den Ausschluss eines Bieters zurück.
Vorab weist es darauf hin, dass ein öffentlicher Auftraggeber einen Bieter von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließt, wenn er sich in einer oder mehreren der Situationen befindet, die den drei Ausschlusskriterien der Haushaltsordnung von 2018 entsprechen.
Im vorliegenden Fall sind die ersten beiden Kriterien nicht anwendbar, da es zum Zeitpunkt des wettbewerblichen Dialogs keine rechtskräftige Gerichts- oder bestandskräftige Verwaltungsentscheidung gab, mit der festgestellt wurde, dass der betreffende Bieter oder eine natürliche oder juristische Person, die Mitglied seines Verwaltungs‑, Leitungs- oder Aufsichtsorgans ist oder in Bezug auf ihn Vertretungs‑, Beschluss- oder Kontrollbefugnisse hat, im Rahmen der beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hatte. Nach dem dritten, im vorliegenden Fall allein in Betracht kommenden Ausschlusskriterium kann der öffentliche Auftraggeber in Ermangelung einer rechtskräftigen Gerichts- oder bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung eine Entscheidung über den Ausschluss eines Bieters von einem Vergabeverfahren nur auf der Grundlage einer vorläufigen Bewertung[4] treffen, und zwar erst, nachdem er eine Empfehlung des in Art. 143 der Haushaltsordnung von 2018 genannten Gremiums eingeholt hat, mit der unter Berücksichtigung der Sachverhalte und Erkenntnisse festgestellt wird, dass der Bieter im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat.
Zunächst prüft das Gericht, ob die Kommission ihre Pflichten dadurch verletzt hat, dass sie im vorliegenden Fall dieses Gremium unter Verstoß gegen das dritte Ausschlusskriterium nicht befasst hat.
Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass der Zweck, der einer Befassung des Gremiums zugrunde liegt, im Schutz der finanziellen Interessen der Union besteht und dass die vorläufige rechtliche Bewertung, die ausschließlich Sache des Gremiums ist, zum einen zwingend Verhaltensweisen der Bieter selbst betrifft und zum anderen Sachverhalte oder Erkenntnisse, die im Wesentlichen im Rahmen von Prüfungen oder Untersuchungen der zuständigen Behörden der Union oder gegebenenfalls der Mitgliedstaaten festgestellt wurden. Folglich muss der öffentliche Auftraggeber das Gremium nur dann befassen, wenn die ihm vorliegenden Sachverhalte ausreichende Anhaltspunkte und keinen bloßen Verdacht für die Vermutung der Schuld des Bieters darstellen. Im vorliegenden Fall lag der Kommission jedoch erstens in Bezug auf ein mutmaßlich rechtswidriges Verhalten von ADS nur das Schreiben vom 23. 12. 2020 vor. Zweitens beruhte das Vorbringen der Klägerin in diesem Schreiben nicht auf Sachverhalten und Erkenntnissen, die im Rahmen von Prüfungen oder Untersuchungen der zuständigen Behörden der Union oder gegebenenfalls der Mitgliedstaaten festgestellt worden waren. Drittens war dem Schreiben kein Beweis beigefügt, mit dem sich das genannte Vorbringen substantiieren ließ. Viertens betrafen die Rügen nicht das Verhalten von ADS, sondern das angebliche Verhalten des ehemaligen Mitarbeiters der Klägerin.
Das Gericht schließt daraus, dass in diesem Vorbringen keine Sachverhalte oder Erkenntnisse gesehen werden konnten, die ausreichende, eine Befassung des Gremiums rechtfertigende Anhaltspunkte für eine Vermutung der Schuld von ADS darstellten.
Im Anschluss daran prüft das Gericht, ob die Kommission gleichwohl verpflichtet war, zu diesem Vorbringen Untersuchungen anzustellen. Insoweit stellt es fest, dass ADS lediglich vorgeworfen wurde, während des fraglichen Ausschreibungsverfahrens einen ehemaligen Mitarbeiter der Klägerin eingestellt zu haben.
Grundsätzlich stellt dieser Umstand für sich allein aber keinen Anhaltspunkt für ein Verhalten dar, bei dem es sich um eine schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit handeln könnte.
Auch die Rüge der Klägerin, ihr ehemaliger Mitarbeiter habe ihr Geschäftsgeheimnis dadurch verletzt, dass er sich rechtswidrig sensible Informationen über sie beschafft habe, die geeignet gewesen seien, ADS im streitigen wettbewerblichen Dialog einen unzulässigen Vorteil zu verschaffen, stellt nach Auffassung des Gerichts jedenfalls keinen Anhaltspunkt für ein Verhalten von ADS selbst dar und ist daher nicht geeignet, die Vermutung zu begründen, dass ADS sich schuldhaft verhalten hatte. Darüber hinaus stellt das Gericht mangels konkreter Argumente und Beweise im Schreiben der Klägerin vom Dezember 2020 fest, dass das Vorbringen der Beschaffung sensibler Informationen, die ADS einen unzulässigen Vorteil hätten verschaffen können, vage und hypothetisch ist, so dass es keinen Anhaltspunkt darstellen kann. Hinzu kommt, dass der ehemalige Mitarbeiter die Klägerin kurze Zeit nach der Abgabe ihres überarbeiteten Angebots im Rahmen der zweiten Phase des wettbewerblichen Dialogs verlassen hatte, so dass er jedenfalls weder Informationen über den Dialog zwischen der Klägerin und der ESA in der dritten Phase noch über den Inhalt des endgültigen Angebots der
Klägerin haben konnte.
Da das Vorbringen im Schreiben vom Dezember 2020 keine ausreichenden Anhaltspunkte bot, um die Vermutung zu begründen, dass ADS sich schuldhaft verhalten hatte, was die Befassung des Gremiums gerechtfertigt hätte, war die Kommission nicht verpflichtet, dazu Untersuchungen anzustellen.
Als Zweites weist das Gericht die Rüge einer Verletzung der Pflichten bei der Prüfung ungewöhnlich niedriger Angebote zurück. Es weist darauf hin, dass nach den Bestimmungen der Haushaltsordnung von 2018 die vom öffentlichen Auftraggeber anhand der Einzelposten des Angebots und der betreffenden Leistung vorzunehmende Beurteilung der Frage, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt, in zwei Schritten erfolgt.[5] Im ersten Schritt muss der öffentliche Auftraggeber prüfen, ob die eingereichten Angebote einen Hinweis enthalten, der den Verdacht erwecken kann, dass sie ungewöhnlich niedrig sein könnten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ungewiss erscheint, ob ein Angebot die geltenden Rechtsvorschriften beachtet und ob der angegebene Preis alle mit den technischen Aspekten des Angebots einhergehenden Kosten umfasst. Gleiches gilt, wenn der angegebene Preis erheblich niedriger ist als der Preis bei den anderen Angeboten oder der übliche Marktpreis. In einem zweiten Schritt hat der öffentliche Auftraggeber, wenn solche Hinweise vorliegen, die Einzelpositionen des Angebots zu prüfen, wobei er dem betreffenden Bieter Gelegenheit geben muss, seinen Preis zu rechtfertigen. Stuft der öffentliche Auftraggeber das Angebot trotz der gegebenen Erläuterungen als ungewöhnlich niedrig ein, muss er es ablehnen.
Im vorliegenden Fall stellt das Gericht fest, dass der Unterschied zwischen dem Preis des endgültigen Angebots von ADS und dem der übrigen Angebote für sich allein angesichts der Besonderheiten des betreffenden Auftrags kein Hinweis darauf sein kann, dass es ungewöhnlich niedrig ist. Zum einen wurde das Ausschreibungsverfahren in Form eines wettbewerblichen Dialogs eingeleitet, da die Kommission noch nicht die genauen Mittel zur Deckung ihres Bedarfs festgelegt hatte. Somit hingen die Preise der Angebote von den verschiedenen technischen Lösungen und Mitteln ab, die die einzelnen Bieter vorgeschlagen hatten. Zum anderen handelt es sich bei den fraglichen Satelliten aufgrund ihrer besonderen Merkmale nicht um Güter, für die ein Standardpreis oder ein Marktpreis existiert.
Zudem hat die Klägerin außer dem Preisunterschied nichts Konkretes zur Stützung ihrer Behauptung vorgebracht, dass das Angebot von ADS ungewöhnlich niedrig hätte erscheinen müssen.
Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass nicht dargetan worden ist, dass Hinweise vorlagen, die den Verdacht der Kommission hätten erwecken können, dass das Angebot von ADS ungewöhnlich niedrig war. Folglich war die Kommission nicht verpflichtet, die Einzelposten des Angebots von ADS zu prüfen, um sich zu vergewissern, ob dem so war.
Als Drittes weist das Gericht die Rüge zurück, die Kommission habe ihre Pflicht zur eigenständigen Entscheidung über die Auftragsvergabe verletzt, weil sie die Ergebnisse des Evaluierungsberichts lediglich bestätigt habe.
Zum einen trifft es zwar zu, dass die Kommission die Gesamtverantwortung für das Galileo‑Programm trägt und für dessen Errichtungsphase eine Übertragungsvereinbarung mit der ESA zu schließen hat, in der die Aufgaben der ESA, insbesondere in Bezug auf die Vergabe das System betreffender Aufträge, genau aufgeführt werden. Im Rahmen eben dieser zwischen der Kommission und der ESA geschlossenen Übertragungsvereinbarung war die ESA, die im Namen und im Auftrag der Kommission handelte, mit der Durchführung des streitigen wettbewerblichen Dialogs betraut, während die Kommission der öffentliche Auftraggeber blieb. Die Verantwortung für das Galileo‑Programm kann die Pflichten der Kommission als öffentlicher Auftraggeber jedoch weder ändern noch erweitern.
Zum anderen ist es in Fällen, in denen der öffentliche Auftraggeber gemäß der Haushaltsordnung von 2018 einen Evaluierungsausschuss eingesetzt hat, Sache dieses Ausschusses, in seinem Evaluierungsbericht die Evaluierung der eingereichten Angebote vorzunehmen. Zwar ist der öffentliche Auftraggeber nicht an diesen Bericht gebunden, doch darf er seine Entscheidung über die Vergabe des fraglichen Auftrags auf ihn stützen. Daher ändert der Umstand, dass die angefochtenen Beschlüsse unter Bezugnahme auf den Evaluierungsbericht begründet wurden, wobei sich die Kommission die Begutachtung des mit der Evaluierung der eingereichten Angebote betrauten Evaluierungsausschusses zu eigen machte, nichts daran, dass die Beschlüsse eigenständig erlassen wurden.
[1] Auftragsbekanntmachung in der Beilage zum Amtsblatt der Europäischen Union vom 15. Mai 2018 (ABl. 2018/S 091-206089).
[2] Gemäß Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1285/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2013 betreffend den Aufbau und den Betrieb der europäischen Satellitennavigationssysteme und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 876/2002 des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 683/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 1) hatte die Kommission für die Errichtungsphase des Programms Galileo mit der ESA eine Übertragungsvereinbarung abgeschlossen.
[3] Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. 7. 2018 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union, zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 1296/2013, (EU) Nr. 1301/2013, (EU) Nr. 1303/2013, (EU) Nr. 1304/2013, (EU) Nr. 1309/2013, (EU) Nr. 1316/2013, (EU) Nr. 223/2014, (EU) Nr. 283/2014 und des Beschlusses Nr. 541/2014/EU sowie zur Aufhebung der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 966/2012 (ABl. 2018, L 193, S. 1), speziell gemäß der Art. 136 und 145 dieser Verordnung.
[4] Im Sinne von Art. 136 Abs. 2 der Haushaltsordnung von 2018.
[5] Anhang I Kapitel 1 Abschnitt 2 Nrn. 23.1 Abs. 1 und 23.2 der Haushaltsordnung von 2018.