EuGH: Der Gerichtshof bestätigt weitgehend die Gültigkeit des Mobilitätspakets
EuGH (Große Kammer), Urteil vom 4. 10. 2024 – verb. Rs. C-541/20 bis C-555/20; Republic of Lithuania, Republic of Bulgaria u.a. gegen European Parliament u.a.; ECLI:EU:C:2024:818
PM Nr. 173 v. 4.10.2024: Er erklärt jedoch die Verpflichtung für nichtig, wonach die Fahrzeuge alle acht Wochen zur Betriebsstätte des Verkehrsunternehmens zurückkehren müssen, da der Unionsgesetzgeber nicht dargetan hat, dass er über ausreichende Informationen verfügte, die es ihm ermöglichten, die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme zu beurteilen Litauen, Bulgarien, Rumänien, Zypern, Ungarn, Malta und Polen[1] haben beim Gerichtshof Nichtigkeitsklagen gegen das Mobilitätspaket[2] erhoben, das im Jahr 2020 vom Unionsgesetzgeber, d. h. vom Parlament und vom Rat,[3] erlassen wurde.
Diese Mitgliedstaaten wenden sich insbesondere gegen
1. das Verbot für Fahrer, ihre regelmäßige wöchentliche Ruhezeit[4] oder ihre Ausgleichsruhezeit[5] im Fahrzeug zu verbringen;[6]
2. die Verpflichtung der Verkehrsunternehmen, die Arbeit ihrer Fahrer so zu planen, dass diese in der Lage sind, während der Arbeitszeit[7] alle drei oder vier Wochen[8] zur Betriebsstätte des Unternehmens oder zu ihrem Wohnsitz zurückzukehren, um dort mindestens ihre regelmäßige wöchentliche Ruhezeit oder ihre Ausgleichsruhezeit zu beginnen oder zu verbringen;
3. die Vorverlegung[9] des Zeitpunkts des Inkrafttretens der Verpflichtung zum Einbau intelligenter Fahrtenschreiber der zweiten Generation sowie allgemein die Festlegung des Zeitpunkts des Inkrafttretens des oben genannten Verbots und der oben genannten Verpflichtung;
4. die Verpflichtung, wonach Fahrzeuge, die in der grenzüberschreitenden Beförderung eingesetzt werden, alle acht Wochen zu einer der Betriebsstätten im Niederlassungsmitgliedstaat des betreffenden Verkehrsunternehmens zurückkehren müssen;
5. die Wartezeit von vier Tagen, in der (gebietsfremde) Kraftverkehrsunternehmen nach einem Kabotagezyklus[10] in einem Aufnahmemitgliedstaat nicht berechtigt sind, Kabotagebeförderungen mit demselben Fahrzeug im selben Mitgliedstaat durchzuführen;
6. die Einstufung der Kraftfahrer als „entsandte Arbeitnehmer“, wenn sie Kabotagebeförderungen, Beförderungen von einem Mitgliedstaat in einen anderen, von denen keiner der Niederlassungsmitgliedstaat des Verkehrsunternehmens ist (sogenannte „Beförderungen im Dreiländerverkehr“),[11] oder bestimmte Beförderungen im kombinierten Verkehr[12] durchführen, so dass ihnen die im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, insbesondere hinsichtlich des Entgelts, zugutekommen.[13] Mit seinem Urteil von heute weist der Gerichtshof die Klagen ab, soweit sie sich nicht gegen die Verpflichtung betreffend die Rückkehr der Fahrzeuge richten, die er für nichtig erklärt.[14] Das Parlament und der Rat haben nämlich nicht dargetan, dass sie beim Erlass dieser Maßnahme über ausreichende
Informationen verfügten, die es ihnen ermöglichten, die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme zu beurteilen.
Im Übrigen weist der Gerichtshof das Vorbringen der klagenden Mitgliedstaaten zurück, das insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung, das Diskriminierungsverbot, die gemeinsame Verkehrspolitik, den freien Dienstleistungsverkehr, die Niederlassungsfreiheit, den freien Warenverkehr, die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie den Umweltschutz betrifft. Nach seiner Auffassung hat der Unionsgesetzgeber die Grenzen seines weiten Gestaltungsspielraums in diesem Bereich nicht offensichtlich überschritten.
Für den freien Dienstleistungsverkehr im Bereich des Verkehrs gilt eine Sonderregelung. Die Verkehrsunternehmen haben nämlich nur insoweit ein Recht auf freien Dienstleistungsverkehr, als ihnen dieses Recht durch vom Unionsgesetzgeber erlassene Maßnahmen wie die des Mobilitätspakets eingeräumt wurde. Im Übrigen verbietet dieses Maßnahmenpaket es den Verkehrsunternehmen nicht, von der Niederlassungsfreiheit durch die Gründung von Tochtergesellschaften in den Mitgliedstaaten, in denen sie Beförderungen durchführen wollen, Gebrauch zu machen und sich auf diese Weise näher an der tatsächlichen Nachfrage nach ihren Dienstleistungen zu orientieren.
Der Gerichtshof entscheidet ferner, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Mobilitätspaket die Wahrung eines neuen Gleichgewichts zwischen den verschiedenen betroffenen Interessen beabsichtigt hat, nämlich insbesondere dem Interesse der Kraftfahrer, in den Genuss besserer sozialer Arbeitsbedingungen zu kommen, und dem Interesse der Arbeitgeber, ihre Beförderungstätigkeiten zu fairen wirtschaftlichen Bedingungen auszuüben.
Der Straßenverkehrssektor muss daher sicherer, effizienter und sozial verantwortlicher werden.
Der Unionsgesetzgeber durfte davon ausgehen, dass unter Berücksichtigung dieses erforderlichen Ausgleichs ein erhöhter sozialer Schutz der Kraftfahrer zu einem Anstieg der von bestimmten Verkehrsunternehmen getragenen Kosten führen kann. Die zu diesem Zweck erlassenen Vorschriften stehen in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel. Außerdem gelten sie unterschiedslos in der gesamten Europäischen Union und diskriminieren keine Verkehrsunternehmen mit Sitz in vermeintlich „an der Peripherie der Union“ gelegenen Mitgliedstaaten. Wenn sich diese Vorschriften auf bestimmte Unternehmen stärker auswirken sollten, dann deshalb, weil diese sich für ein Geschäftsmodell entschieden haben, das darin besteht, ihre Dienstleistungen im Wesentlichen, wenn nicht vollständig, an Empfänger zu erbringen, die in von ihrem Niederlassungsmitgliedstaat weit entfernten Mitgliedstaaten ansässig sind.
Das Verbot, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit oder die Ausgleichsruhezeit im Fahrzeug zu verbringen, ist nicht neu, sondern ergab sich bereits aus der früheren Regelung in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof.[15]
Die Verpflichtung der Verkehrsunternehmen, es den Fahrern zu ermöglichen, regelmäßig zur Betriebsstätte des Unternehmens oder zu ihrem Wohnsitz zurückzukehren, um dort mindestens ihre regelmäßige wöchentliche Ruhezeit oder ihre Ausgleichszeit zu beginnen oder zu verbringen, hindert die Fahrer nicht daran, selbst den Ort zu wählen, an dem sie ihre Ruhezeit verbringen wollen. Darüber hinaus können die Unternehmen diese Rückkehr mit einer Rückkehr der Fahrzeuge zu ihrer Betriebsstätte im Rahmen ihrer üblichen Tätigkeiten verknüpfen oder sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln planen, so dass sich diese Verpflichtung nicht unbedingt negativ auf die Umwelt auswirkt.
Was die Entsendevorschriften betrifft, hat der Unionsgesetzgeber für jede Art von Straßenverkehr die Verbindung der erbrachten Dienstleistung zum Aufnahmemitgliedstaat bzw. zum Niederlassungsmitgliedstaat berücksichtigt, um einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen in Rede stehenden Interessen zu erreichen. Diese Vorschriften wurden durch das Mobilitätspaket in Bezug auf die Kabotagebeförderung nicht geändert, während sie sich für Beförderungen im „Dreiländerverkehr“ im Wesentlichen bereits aus dem früheren rechtlichen Rahmen ergaben.
Schließlich hat der Unionsgesetzgeber mit dem Mobilitätspaket auch ein neues Gleichgewicht unter Berücksichtigung der Interessen der verschiedenen Verkehrsunternehmen hergestellt, indem er die Schwierigkeiten behoben hat, die bei der Anwendung der Verordnung Nr. 1072/2009[16] aufgrund von Praktiken aufgetreten sind, die dem vorübergehenden Charakter der Kabotagebeförderung zuwiderlaufen.
So soll insbesondere mit der Wartezeit für die Kabotage entsprechend dem mit der früheren Regelung bereits verfolgten Ziel gewährleistet werden, dass Kabotagebeförderungen nicht so durchgeführt werden, dass eine dauerhafte oder ununterbrochene Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat entsteht. Während dieser Wartezeit sind lediglich Kabotagebeförderungen im Aufnahmemitgliedstaat verboten, nicht aber die Durchführung anderer Beförderungen wie grenzüberschreitender Beförderungen in den Niederlassungsmitgliedstaat oder in andere Mitgliedstaaten, gegebenenfalls gefolgt von Kabotagebeförderungen in diesen anderen Mitgliedstaaten.
[1] Außerdem haben Belgien, Estland und Lettland vor dem Gerichtshof einen oder mehrere dieser Staaten unterstützt.
[2] Dieses Paket besteht insbesondere aus 1) der Verordnung (EU) 2020/1054 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 7. 2020 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 hinsichtlich der Mindestanforderungen an die maximalen täglichen und wöchentlichen Lenkzeiten, Mindestfahrtunterbrechungen sowie täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten, und der Verordnung (EU) Nr. 165/2014 hinsichtlich der Positionsbestimmung mittels Fahrtenschreibern, 2) der Verordnung (EU) 2020/1055 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 7. 2020 zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1071/2009, (EG) Nr. 1072/2009 und (EU) Nr. 1024/2012 im Hinblick auf ihre Anpassung an die Entwicklungen im Kraftverkehrssektor sowie 3) der Richtlinie (EU) 2020/1057 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 7. 2020 zur Festlegung besonderer Regeln im Zusammenhang mit der Richtlinie 96/71/EG und der Richtlinie 2014/67/EU für die Entsendung von Kraftfahrern im Straßenverkehrssektor und zur Änderung der Richtlinie 2006/22/EG bezüglich der Durchsetzungsanforderungen und der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012.
[3] Dänemark, Deutschland, Griechenland, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich und Schweden haben vor dem Gerichtshof das Parlament und/oder den Rat unterstützt.
[4] Von mindestens 45 Stunden.
[5] D. h. eine Zeit von mehr als 45 Stunden, die als Ausgleich für eine vorherige verkürzte wöchentliche Ruhezeit eingelegt wird. Fahrtunterbrechungen sowie tägliche (mindestens 9 Stunden) und reduzierte wöchentliche Ruhezeiten (weniger als 45 Stunden, aber mindestens 24 Stunden) im Fahrzeug zu verbringen, ist weiterhin erlaubt.
[6] Diese Ruhezeiten sind in einer geeigneten geschlechtergerechten Unterkunft mit angemessenen Schlafgelegenheiten und sanitären Einrichtungen zu verbringen. Die Kosten hierfür hat der Arbeitgeber zu tragen.
[7] Das Verkehrsunternehmen muss die Rückkehr des Fahrers grundsätzlich auf eigene Kosten planen, es sei denn, der Fahrer entscheidet sich für einen gelegentlichen Verzicht auf eine solche Rückkehr.
[8] Der Zeitraum von vier Wochen wird auf drei Wochen verkürzt, wenn der Fahrer zuvor zwei aufeinanderfolgende reduzierte wöchentliche Ruhezeiten eingelegt hat.
[9] Um neuneinhalb oder neun Jahre, je nach Art des im Fahrzeug vorhandenen Fahrtenschreibers.
[10] Eine Kabotagebeförderung ist eine Beförderung, die innerhalb eines Mitgliedstaats von einem nicht in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen Verkehrsunternehmer durchgeführt wird. Solche Beförderungen sind zulässig, solange sie nicht so erfolgen, dass dadurch eine dauerhafte oder ununterbrochene Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat entsteht.
[11] Ein Kraftfahrer, der eine solche Beförderung im „Dreiländerverkehr“ durchführt, gilt als entsandt, da dieser Kraftfahrer und diese Beförderung eine hinreichende Verbindung mit dem Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufweisen.
[12] D. h. Güterbeförderungen zwischen Mitgliedstaaten, bei denen der Lastkraftwagen oder ein anderes mit dem Lastkraftwagen verbundenes Beförderungsmittel die Zu- und Ablaufstrecke auf der Straße und den übrigen Teil der Strecke auf der Schiene oder auf einer Binnenwasserstraße oder auf See zurücklegt. Ein Kraftfahrer gilt nicht als entsandt, wenn er im kombinierten Verkehr die Zu- oder Ablaufstrecke auf der Straße zurücklegt, sofern die auf der Straße zurückgelegte Teilstrecke selbst aus bilateralen Beförderungen besteht. In diesem Fall ist die Art der erbrachten Dienstleistung auf der Zu- oder Ablaufstrecke auf der Straße eng mit dem Mitgliedstaat der Niederlassung verbunden.
[13] Nicht als entsandt gelten hingegen Kraftfahrer, die „bilaterale“ Beförderungen (zwischen dem Niederlassungsmitgliedstaat und einem anderen Mitgliedstaat) im Güter- bzw. Personenverkehr oder Beförderungen im Transit durchführen, bei denen der Kraftfahrer das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats durchquert, in der Regel ohne Güter zuzuladen oder zu entladen und ohne Fahrgäste aufzunehmen oder abzusetzen.
[14] Genauer gesagt erklärt der Gerichtshof Art. 1 Nr. 3 der Verordnung 2020/1055 für nichtig, der diese Verpflichtung vorsieht.
[15] Urteil des Gerichtshofs vom 20. 12. 2017, Vaditrans, C-102/16 (vgl. auch PM Nr. 145/17).
[16] Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. 10. 2009 über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs.