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Politiken
29.07.2024
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EuGH: Haftbefehle aus dem Vereinigten Königreich: Der Gerichtshof stellt klar, unter welchen Voraussetzungen diese in der Europäischen Union vollstreckt werden können

EuGH (Große Kammer), Urteil vom 29. 7. 2024 – Rs. C-202/24; MA, intervening party gegen Minister for Justice and Equality; ECLI:EU:C:2024:649

PM Nr. 117/2024 v. 29.7.2024: Seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union wird die Vollstreckung von Haftbefehlen aus dem Vereinigten Königreich in der Union durch das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit (AHZ) zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich geregelt. Der Gerichtshof entscheidet, dass die Justizbehörden der Mitgliedstaaten, die um die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls ersucht werden, eine eigenständige Prüfung der Gefahr eines Verstoßes gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorzunehmen haben, der die betroffene Person im Fall ihrer Übergabe an das Vereinigte Königreich ausgesetzt sein soll. Der Übergabemechanismus des AHZ unterscheidet sich von dem, der im Rahmenbeschluss über Europäische Haftbefehle vorgesehen ist.

Das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit (AHZ)[1] zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich zur Regelung ihrer Beziehungen nach dem Brexit sieht u. a. eine justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen vor, die auf einem Mechanismus der Übergabe auf der Grundlage eines Haftbefehls beruht.

Gegen eine Person, die verdächtigt wird, Straftaten im Zusammenhang mit dem Terrorismus begangen zu haben, erließ ein Bezirksrichter am erstinstanzlichen Gericht für Strafsachen von Nordirland (Vereinigtes Königreich) vier Haftbefehle. Mit seinem Rechtsmittel vor dem Obersten Gericht Irlands machte der Betroffene geltend, seine Übergabe sei mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unvereinbar, da das Vereinigte Königreich die Vorschriften über die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen nach der in Rede stehenden Begehung der mutmaßlichen Straftaten geändert habe.

Das Oberste Gericht Irlands weist darauf hin, dass das Oberste Gericht des Vereinigten Königreichs bereits entschieden habe, dass diese Vorschriften mit der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)[2] vereinbar seien, und hat in diesem Zusammenhang bereits selbst das Vorbringen des Betroffenen zur Gefahr eines Verstoßes gegen die EMRK zurückgewiesen. Da es sich fragt, ob die gleiche Schlussfolgerung im Hinblick auf den in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)[3] verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen gezogen werden könne, hat es den Gerichtshof hierzu befragt.

In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof klar, welche Rolle die vollstreckende Justizbehörde eines Mitgliedstaats zu übernehmen hat, wenn eine Person, gegen die ein Haftbefehl nach dem AHZ ergangen ist, geltend macht, dass im Fall ihrer Übergabe an das Vereinigte Königreich die Gefahr eines Verstoßes gegen diesen Grundsatz gegeben sei. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vollstreckende Justizbehörde eine eigenständige Prüfung dieser Gefahr in Anbetracht der Charta vornehmen muss, auch wenn die Gefahr eines Verstoßes gegen die EMRK bereits ausgeschlossen worden ist.

Die vollstreckende Justizbehörde darf die Vollstreckung des Haftbefehls nur ablehnen, wenn sie, nachdem sie die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen und Garantien ersucht hat, über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, aus denen sich ergibt, dass eine echte Gefahr besteht, dass eine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung ursprünglich angedrohte Strafe verhängt wird.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl[4] nicht die Vollstreckung von Haftbefehlen regelt, die das Vereinigte Königreich nach Ablauf des im Austrittsabkommen[5] festgelegten Übergangszeitraums ausgestellt hat. Seit diesem Zeitpunkt unterliegt diese Vollstreckung dem AHZ. Nach diesem Abkommen kann ein Mitgliedstaat die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls nur aus Gründen ablehnen, die sich aus dem Abkommen ergeben. Dabei sind die vollstreckenden Justizbehörden der Mitgliedstaaten, wenn sie eine Entscheidung über die Übergabe einer Person an das Vereinigte Königreich auf der Grundlage des AHZ erlassen, verpflichtet, die Wahrung der in der Charta anerkannten Grundrechte sicherzustellen.

Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass das mit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eingeführte vereinfachte und wirksame System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen auf dem notwendigen hohen Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beruht. Dieses Prinzip stellt den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in Strafsachen dar. Es handelt sich dabei um eine Besonderheit der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, die auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt, auf die sich die Union gründet, und anerkennt, dass die anderen Mitgliedstaaten diese Werte mit ihm teilen.

Ein solches Maß an Vertrauen kann auch durch internationale Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten und bestimmten Drittländern, die privilegierte Beziehungen zur Europäischen Union unterhalten, begründet werden.

Das AHZ stellt jedoch keine solchen privilegierten Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union her, zumal das Vereinigte Königreich nicht Teil des europäischen Raumes ohne Binnengrenzen ist. Darüber hinaus unterscheidet sich der Übergabemechanismus des AHZ in mancher Hinsicht erheblich von dem, der im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl geregelt ist.

In diesem Zusammenhang muss die vollstreckende Justizbehörde, wenn sich die gesuchte Person auf die Gefahr der Verletzung eines in der Charta verankerten Grundrechts beruft, alle relevanten Angaben prüfen, um die voraussichtliche Lage dieser Person im Fall ihrer Übergabe an das Vereinigte Königreich zu beurteilen. Dies setzt im Unterschied zu der beim Europäischen Haftbefehl vorzunehmenden zweistufigen Prüfung[6] voraus, dass gleichzeitig sowohl die in diesem Land allgemein geltenden Vorschriften und Praktiken als auch – in Ermangelung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung – die Besonderheiten der individuellen Situation dieser Person berücksichtigt werden.

Was schließlich die Änderung der Vorschriften über die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen betrifft, entscheidet der Gerichtshof, dass eine die Vollstreckung einer Strafe betreffende Maßnahme nur dann mit der Charta unvereinbar ist, wenn sie zu einer Änderung des tatsächlichen Umfangs der zur Zeit der Begehung der in Rede stehenden Straftat angedrohten Strafe und somit zur Verhängung einer schwereren als der ursprünglich angedrohten Strafe führt.



[1] Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland andererseits.

[2] Europäische Menschenrechtskonvention in der durch die Protokolle Nr. 11 und 14 geänderten, durch das Zusatzprotokoll sowie die Protokolle Nr. 4, 6, 7, 12, 13 und 16 ergänzten Fassung.

[3] Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

[4] Rahmenbeschluss 2002/584 vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. 2. 2009 geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).

[5] Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft.

[6] In Bezug auf einen Europäischen Haftbefehl muss die vollstreckende Justizbehörde im Rahmen eines ersten Schrittes ermitteln, ob es Angaben gibt, die nahelegen, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr der Verletzung eines maßgeblichen Grundrechts gegeben ist, und zwar entweder aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel oder aufgrund von Mängeln, die speziell eine objektiv identifizierbare Gruppe von Personen betreffen. Im Rahmen eines zweiten Schrittes muss sie konkret und genau untersuchen, inwieweit sich die im ersten Schritt festgestellten Mängel auf die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, auswirken können und ob es in Anbetracht ihrer persönlichen Situation ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Fall einer Übergabe an den ausstellenden Mitgliedstaat einer echten Gefahr der Verletzung eines maßgeblichen Grundrechts ausgesetzt sein wird. Die Verpflichtung, allgemeine Mängel festzustellen, bevor konkret und genau untersucht werden kann, ob die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, einer echten Gefahr der Verletzung eines Grundrechts ausgesetzt sein wird, soll sicherstellen, dass eine solche Untersuchung nur in Ausnahmefällen durchgeführt werden kann. Sie ist somit Folge der Vermutung, dass der Ausstellungsmitgliedstaat die Grundrechte wahrt, die sich aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ergibt.

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