EuGH: Vorübergehender Schutz für Vertriebene aus der Ukraine: Ein Mitgliedstaat, der den Schutz über die Anforderungen des Unionsrechts hinaus auf bestimmte Personengruppen ausgedehnt hat,
... kann ihnen diesen entziehen, ohne das Ende des nach Unionsrecht gewährten vorübergehenden Schutzes abzuwarten
EuGH (Gr. Kammer), Urteil vom 19. 12. 2024 – verb. Rs. C-244/24 [Kaduna][1] und C-290/24 [Abkez][2]; P, AI, ZY bzw. BG gegen Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid; ECLI:EU:C:2024:1038
PM Nr. 203/2024 v. 19.12.2024: Die niederländischen Behörden hatten zunächst beschlossen, den vorübergehenden Schutz für Vertriebene aus der Ukraine auf andere als die vom Unionsrecht erfassten Personengruppen auszudehnen. Später entschieden sie jedoch, diesen fakultativen Schutz zu entziehen. In seinem Urteil bestätigt der Gerichtshof, dass ein Mitgliedstaat in einem solchen Fall diesen Personen grundsätzlich den vorübergehenden Schutz entziehen kann, bevor der nach dem Unionsrecht gewährte vorübergehende Schutz beendet ist. Gegen diese Personen kann allerdings keine Rückkehrentscheidung ergehen, solange der fakultative Schutz in Kraft ist.
Nach der Invasion der russischen Streitkräfte in der Ukraine führte die Europäische Union 2022 einen Mechanismus des vorübergehenden Schutzes für Vertriebene aus der Ukraine ein.[3] Diese europäische Regelung gilt zwingend für:
a) ukrainische Staatsangehörige, b) Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine, die internationalen Schutz genossen haben, c) Familienangehörige dieser beiden Gruppen, d) Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine, die über einen unbefristeten Aufenthaltstitel in der Ukraine verfügen und nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückzukehren.
Allerdings können die Mitgliedstaaten diesen vorübergehenden Schutz aus denselben Gründen auf alle anderen Gruppen von Vertriebenen aus der Ukraine ausdehnen.
Die niederländischen Behörden gewährten zunächst allen Inhabern eines ukrainischen Aufenthaltstitels vorübergehenden Schutz, auch denjenigen mit einem befristeten Aufenthaltstitel. Später entschieden sie jedoch, einen solchen Schutz auf eine enger gefasste Personengruppe zu beschränken, nämlich auf Inhaber eines unbefristeten ukrainischen Aufenthaltstitels. Mehrere Personen, die nicht über einen solchen unbefristeten Aufenthaltstitel verfügen, denen aber in den Niederlanden bereits ein fakultativer vorübergehender Schutz gewährt worden war, klagten vor niederländischen Gerichten.
Der niederländische Staatsrat und das Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Amsterdam, haben dem Gerichtshof Fragen dazu vorgelegt, ob und wie ein Mitgliedstaat den in diesem Zusammenhang gewährten fakultativen Schutz beenden kann.
In seinem Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass der vorübergehende und sofortige Schutz Ausdruck des Grundsatzes der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Asylpolitik ist. Er hat Ausnahmecharakter und muss den Fällen eines Massenzustroms von Vertriebenen vorbehalten bleiben.
In diesem Rahmen kann ein Mitgliedstaat, der einer Gruppe von Personen einen fakultativen vorübergehenden Schutz gewährt hat, ihnen diesen Schutz grundsätzlich entziehen. Die Mitgliedstaaten können über die Dauer des von ihnen gewährten fakultativen vorübergehenden Schutzes entscheiden, sofern dieser nicht vor dem von den Unionsorganen gewährten vorübergehenden Schutz beginnt bzw. nach diesem endet.
Ferner ist der Mitgliedstaat verpflichtet, den Personen, die fakultativen vorübergehenden Schutz genießen, einen Aufenthaltstitel zu erteilen, der es ihnen ermöglicht, sich in seinem Hoheitsgebiet aufzuhalten, solange ihnen dieser Schutz nicht entzogen wird.
Daraus folgt, dass diese Personen, solange sie weiterhin fakultativen vorübergehenden Schutz genießen, sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten. Gegen diese Personen kann daher keine Rückkehrentscheidung ergehen, bevor der betreffende Mitgliedstaat den fakultativen Schutz beendet hat.
[1] Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
[2] Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
[3] Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. 3. 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes.