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Politiken
08.05.2018
Politiken
EUGH: Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen

Die Erforderlichkeit einer Beschränkung der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers oder eines seiner Familienangehörigen, der im Verdacht steht, in der Vergangenheit an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein, ist von Fall zu Fall zu prüfen

Der EuGH (Große Kammer) hat mit Urteil vom 2. 5. 2018 – verb. Rs. C-331/16 und C-66/16, K. gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (C-331/16) und H. F. gegen Belgische Staat (C-66/16), ECLI:EU:C:2018:296 – wie folgt entschieden:

1. Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass die Tatsache, dass gegenüber einem Bürger der Europäischen Union oder einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der die Erteilung eines Rechts auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats beantragt, in der Vergangenheit aufgrund von Art. 1 Abschnitt F des am 28. 7. 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das durch das am 31. 1. 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt wurde, oder von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. 12. 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes eine Entscheidung ergangen ist, mit der er von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen wurde, den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats nicht automatisch die Annahme erlaubt, dass seine bloße Anwesenheit in dessen Hoheitsgebiet unabhängig vom Vorliegen von Wiederholungsgefahr eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und den Erlass von Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit rechtfertigen kann.

Die Feststellung des Vorliegens einer solchen Gefahr muss auf eine Prüfung des persönlichen Verhaltens des Betroffenen durch die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats gestützt werden, bei der die Feststellungen in der Entscheidung, ihn von der Anerkennung als Flüchtling auszuschließen, und die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, insbesondere Art und Schwere der ihm zur Last gelegten Verbrechen oder Handlungen, der Grad seiner persönlichen Beteiligung an ihnen, das etwaige Vorliegen von Gründen für eine Freistellung von seiner strafrechtlichen Verantwortung sowie das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer strafrechtlichen Verurteilung. Bei dieser umfassenden Prüfung muss auch berücksichtigt werden, wie viel Zeit seit der mutmaßlichen Begehung dieser Verbrechen oder Handlungen vergangen ist und wie sich der Betroffene später verhalten hat, wobei insbesondere relevant ist, ob sein Verhalten zeigt, dass bei ihm eine mit den in den Art. 2 und 3 EUV genannten Grundwerten unvereinbare Haltung fortbesteht, so dass die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung gestört werden könnten. Die bloße Tatsache, dass sich das frühere Verhalten dieser Person in den spezifischen historisch-gesellschaftlichen Kontext ihres Herkunftslands einfügt, der sich im Aufnahmemitgliedstaat nicht wiederholen dürfte, steht einer solchen Feststellung nicht entgegen.

Im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müssen die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats außerdem den Schutz des Grundinteresses der fraglichen Gesellschaft gegen die Interessen des Betroffenen an der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit und seines Aufenthaltsrechts als Unionsbürger sowie an seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens abwägen.

2. Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass der Aufnahmemitgliedstaat, wenn zu den in Betracht gezogenen Maßnahmen die Ausweisung des Betroffenen aus diesem Staat gehört, Art und Schwere seines Verhaltens, die Dauer und gegebenenfalls die Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat, die seit dem ihm zur Last gelegten Verhalten verstrichene Zeit, sein Verhalten während dieser Zeit, den Grad seiner aktuellen Gefährlichkeit für die Gesellschaft sowie die Stärke der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen an diesen Mitgliedstaat zu berücksichtigen hat.

Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass er nicht für einen Bürger der Europäischen Union gilt, der nicht über ein Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat im Sinne von Art. 16 und Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie verfügt.

(Tenor)

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