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Politiken
05.12.2018
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EuGH: Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona schlägt dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass Art. 50 EUV es zulasse, die Mitteilung der Absicht, aus der Union auszutreten, einseitig zurückzunehmen

GA CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA, Schlussanträge vom 4.12.2018 – Rs. C621/18, Andy Wightman, Ross Greer, Alyn Smith, David Martin, Catherine Stihler, Jolyon Maugham, Joanna Cherry gegen Secretary of State for Exiting the European Union, ECLI:EU:C:2018:978:

Auf Antrag mehrerer Abgeordneter des schottischen Parlaments, des Parlaments des Vereinigten Königreichs und des Europäischen Parlaments hat ein schottisches Gericht, der Court of Session, Inner House, First Division (Scotland) (Oberstes Gericht, Berufungsabteilung, Erste Kammer), dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob ein Mitgliedstaat, der im Einklang mit Art. 50 EUV dem Europäischen Rat seine Absicht mitgeteilt hat, aus der Union auszutreten, diese Mitteilung einseitig zurücknehmen kann und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen.

Da das Parlament des Vereinigten Königreichs unabhängig davon, ob ein Austrittsabkommen zustande kommt oder nicht, seine abschließende Zustimmung erteilen muss, sind mehrere Abgeordnete der Ansicht, dass die Rücknehmbarkeit dem Vereinigten Königreich die Möglichkeit eröffnen würde, angesichts eines unbefriedigenden Brexit in der Union zu bleiben. Das vorlegende Gericht scheint sich dieser Ansicht anzuschließen, denn es führt aus, die Antwort des Gerichtshofs würde den Abgeordneten des Vereinigten Königreichs Klarheit über die Optionen verschaffen, die sie bei ihrer Stimmabgabe hätten.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs trägt vor, die Vorlagefrage sei unzulässig, da sie hypothetischen und rein theoretischen Charakter habe. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Regierung oder das Parlament des Vereinigten Königreichs die Mitteilung der Austrittsabsicht zurücknehmen werde.

In seinen heutigen Schlussanträgen kommt Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona zu dem Ergebnis, dass keiner der Umstände vorliege, unter denen ein Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig zu erklären sei. Es handele sich um einen echten Rechtsstreit, die Frage sei weder rein akademisch noch verfrüht oder überflüssig, sondern habe offenkundig praktische Bedeutung, und sie sei für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich. Außerdem sei der Gerichtshof für die definitive und einheitliche Auslegung von Art. 50 EUV zuständig; dabei bedürfe die Klärung der Frage, ob dieser Artikel die einseitige Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht zulasse, erheblicher Anstrengungen.

Der Generalanwalt schlägt dem Gerichtshof vor, zur Beantwortung der Frage des schottischen Gerichts in seinem künftigen Urteil festzustellen, dass Art. 50 EUV es zulasse, die Mitteilung der Absicht, aus der Union auszutreten, einseitig zurückzunehmen, und zwar bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Austrittsabkommens, vorausgesetzt, über die Rücknahme sei im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorschriften des Mitgliedstaats entschieden worden, sie werde dem Europäischen Rat förmlich mitgeteilt, und es liege keine missbräuchliche Praxis vor.

Der Generalanwalt legt Art. 50 EUV aus, wobei er, soweit darin keine ausdrückliche Regelung enthalten ist, auf die einschlägigen Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über das Recht

der Verträge[1] zurückgreift, auf denen dieser Artikel beruht. Nach Art. 68 des Wiener Übereinkommens können Notifikationen des Rücktritts von einem völkerrechtlichen Vertrag jederzeit zurückgenommen werden, bevor sie wirksam werden.

Der Generalanwalt hebt hervor, dass der Rücktritt von einem völkerrechtlichen Vertrag, der die Kehrseite der Befugnis zu dessen Abschluss darstelle, definitionsgemäß ein einseitiger Akt eines Vertragsstaats sei, in dem dessen Souveränität zum Ausdruck komme. Die einseitige Rücknahme sei ebenfalls Ausdruck der Souveränität des austretenden Staats, der beschlossen habe, seine ursprüngliche Entscheidung rückgängig zu machen. Aus der systematischen Auslegung von Art. 50 EUV ergäben sich mehrere Gründe, die für die Möglichkeit einer einseitigen Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht sprächen. Erstens sei der Abschluss eines Abkommens keine Voraussetzung für die Umsetzung des Rücktritts. Zweitens heiße es in Art. 50 Abs. 2 EUV, dass ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließe, „seine Absicht“ – und nicht seinen Beschluss – dem Europäischen Rat mitteile; eine solche Absicht könne sich aber ändern. Drittens wirke sich die Einseitigkeit des ersten Abschnitts des in Art. 50 EUV geregelten Verfahrens, in dem der Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließe, aus der Union auszutreten, auf den nachfolgenden Abschnitt (in dem die Einzelheiten des Austritts mit den Unionsorganen ausgehandelt würden) aus, so dass der Austrittsbeschluss, wenn er gemäß dem in der Verfassung des austretenden Mitgliedstaats vorgesehenen Verfahren zurückgenommen werde, seine verfassungsrechtliche Grundlage verliere. Schließlich liefe die Unzulässigkeit der Rücknahme in der Praxis darauf hinaus, dass ein Staat zum Austritt aus der Union gezwungen würde, obwohl er nach der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofs[2] in jeder Hinsicht ein Mitglied der Union bleibe. Es wäre unlogisch, diesen Mitgliedstaat zum Austritt aus der Union und zur anschließenden Aushandlung eines erneuten Beitritts zu zwingen. Die aufgrund der Verhandlungen erlassenen Rechtsakte seien ihnen inhärente Maßnahmen oder Abkommen im Hinblick auf den künftigen Austritt und stünden einer einseitigen Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht nicht entgegen.

Art. 50 EUV sei eine Ausprägung des Grundsatzes, dass die nationale Identität der Staaten zu wahren sei, indem ihnen der Austritt gestattet werde, wenn sie der Ansicht seien, dass ihre nationale Identität mit der Zugehörigkeit zur Union unvereinbar sei. Umgekehrt sei ein Staat nicht daran gehindert, seine Identität mit der Integration in die Union zu verknüpfen. Dass ein Mitgliedstaat, der beschlossen habe, aus der Union auszutreten, dann aber im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften seine Meinung ändere und Mitglied bleiben wolle, nicht daran gehindert werde, der Union weiter anzugehören, sei ein besonders sachdienliches Auslegungskriterium, das dem Ziel entspreche, den Integrationsprozess voranzubringen. Dieses Kriterium sei überdies für den Schutz der von den Unionsbürgern erworbenen Rechte, die durch den Austritt eines Mitgliedstaats unweigerlich eingeschränkt würden, am günstigsten.

Für die Möglichkeit der einseitigen Rücknahme gebe es allerdings bestimmte Voraussetzungen und Grenzen. Erstens müsse sie, wie die Austrittsabsicht, dem Europäischen Rat förmlich mitgeteilt werden. Zweitens müssten die innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Vorschriften eingehalten werden. Wenn, wie im Vereinigten Königreich, die Zustimmung des Parlaments eine Vorbedingung für die Mitteilung der Austrittsabsicht sei, müsse dies logischerweise auch für die Rücknahme dieser Mitteilung gelten. Für die Rücknahme gebe es zudem eine zeitliche Grenze, und zwar sei sie nur innerhalb der durch die Mitteilung der Austrittsabsicht in Gang gesetzten Frist von zwei Jahren möglich. Auch die Grundsätze des guten Glaubens und der loyalen Zusammenarbeit seien zu beachten, um einen Missbrauch des in Art. 50 EUV vorgesehenen Verfahrens zu verhindern.

Der Generalanwalt weist die von der Kommission und vom Rat vertretene Auffassung zurück, dass Art. 50 EUV nur eine vom Europäischen Rat einstimmig beschlossene Rücknahme zulasse. Er hält zwar eine Rücknahme im gegenseitigen Einvernehmen des austrittswilligen Mitgliedstaats, der seinen Standpunkt ändere, und der Unionsorgane, die mit ihm über den Austritt verhandelten, für möglich. Sie schließe jedoch nicht aus, dass der austrittswillige Mitgliedstaat gemäß Art. 50 EUV die einseitige Rücknahme erkläre. Dagegen wäre es mit Art. 50 EUV unvereinbar, die Rücknahmemöglichkeit von einem einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates abhängig zu machen. Wenn der Europäische Rat das letzte Wort über die Rücknahme hätte und dabei einstimmig entscheiden müsste, würde dies nämlich die Gefahr erhöhen, dass der Mitgliedstaat die Union gegen seinen Willen verlassen müsse, da das Recht, aus der Union auszutreten (und, umgekehrt, in der Union zu bleiben), seiner Kontrolle, seiner Souveränität und seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften entzogen wäre. Unter diesen Umständen würde es ausreichen, wenn sich nur einer der 27 verbleibenden Mitgliedstaaten gegen die Rücknahme ausspräche, um die Absicht des Mitgliedstaats zu vereiteln, der seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht habe, in der Union zu bleiben.

(PM-Nr. 187/18)



[1] Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, geschlossen in Wien am 23. Mai 1969 (United Nations Treaty Series, Band 1155, S. 331).

[2] Urteil vom 19. 9. 2018 – RO (C-327/18 PPU; vgl. Pressemitteilung Nr. 135/18).

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