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BB 2017, I
Zumkeller 

Das Weißbuch des BMAS – und was kommt jetzt?

Abbildung 1

Es hat lange gedauert, bis die Bundesregierung, bis das BMAS auf einen Zug aufgesprungen ist, der bereits so sehr an Tempo aufgenommen hat, dass ein gefahrloses Einsteigen schon nicht mehr möglich war. Und zu einer Zeit, in der schon seit Jahrzehnten das größte Kapital Deutschlands auf den Weltmärkten Ausbildung, Know-how, Produktivität, Qualität, Flexibilität sind. Denn mit Preisen können wir nicht konkurrieren und Rohstoffe (in nennenswertem Umfang) haben wir nicht. Unser Rohstoff ist das Kostbarste, was man je haben kann: der Mensch.

Der Mensch ist es, der sich auch geändert hat. Nicht nur die Umgebungsvariablen.

Ja, die hohe Produktivität, auch resultierend aus technischem Know-how, konnte uns in den späten 1960er Jahren zur 40h-Woche führen, 20 Jahre später in die Richtung 38,5h – jetzt sind wir teilweise bei 35h. Ja, der technische Fortschritt – einmündend in “Industrie 4.0” – rasanter als ihn viele verfolgen können – und wir alle wissen noch nicht wohin (und vor allem: wann) uns dieser führen wird. Ja, die Globalisierung, nachdem insbesondere Logistik und Kommunikation günstig, verfügbar und flexibel wurden – und uns auch in neue Wettbewerbssituationen bringt. Ja, all dies führt zu Ansprüchen der Unternehmen an ihre Mitarbeiter: all das verursacht Investitionen, neue Geschäftsmodelle (wie etwa 24/7-Service), höchste Auslastung der Arbeitsplätze.

Ja, die Umgebungsvariablen haben sich geändert, die Anforderungen der Arbeitgeber – aber: eben auch die der Arbeitnehmer.

Die Arbeitnehmer werden selbstbewusster. Hatten sie früher keinerlei Lobby, kamen dann zunächst einzelne Industrielle mit ihrem Fürsorgegedanken als erste Lobby auf, Gewerkschaften gründeten sich und im Zuge der kollektiven Lobby insbesondere in Deutschland die Betriebsräte. Mehr und mehr werden sie aber zu ihrer eigenen Lobby, vertreten ganz persönlich ihre Interessen. Und sie können sich das mehr und mehr “leisten”, denn sie werden auch seltener – der war for talents ist längst ausgebrochen. Es ist heute nicht nur Einzelfall, sondern nahezu normal, dass ein Studienabgänger vor seiner ersten Einstellung nach Sabbatical, Gleitzeit, Urlaubseinkauf fragt.

Es ist auch an der Tagesordnung, dass Beschäftigte fragen, warum sie nicht so arbeiten können, wie es Job und zugleich Privatleben erlauben und fordern. Der Vater, der nicht versteht, warum er nicht dann arbeiten kann, wenn er nicht sein Kind betreuen muss – weil er dann die Ruhezeit des Arbeitszeitgesetzes nicht einhalten kann. Die Forscherin, die nicht versteht, warum sie nicht Samstag und Sonntag durcharbeiten kann bis sie “fertig” ist – und sich dann als “Belohnung” entsprechend Freizeit nehmen kann. Der Servicetechniker, der seinen Job beim Kunden fertigmachen möchte und dann lieber einmal länger als die erlaubten 10 Stunden am Tag arbeiten möchte – um dann einige Tage am Stück frei zu haben. Das erkennt auch das Weißbuch: “Viele Beschäftigte wünschen sich mehr Spielraum, um Beruf und Privatleben besser in Einklang bringen zu können.”

Früher, ja, da waren das vielleicht noch “einseitige” Forderungen der Arbeitgeber; heute fragen das die Arbeitnehmer an. Nein, sie fordern es ab. Und wir Praktiker . . . hilflos, sorry, der Gesetzgeber hindert uns daran, Lösungen zu bieten.

Aber jetzt kommt ja das Weißbuch – und dann die Gesetzesänderungen – und dann wird alles besser.

Was wir finden enttäuscht aber vor diesem Hintergrund: Anspruch auf Wahlarbeitszeit hinsichtlich Dauer und Lage, Wahlarbeitsort (Anspruch auf Homeoffice) – aber die wichtige Komponente der Sprengung der Ketten des Arbeitszeitrechts – findet sich nicht. Sicher, es ist ein großer Spagat, Arbeitszeitrecht liberalisieren und dennoch Arbeitsschutz wahren. Aber dass es eine große Aufgabe ist, darf nicht dazu führen, sie liegen zu lassen und mit anderen wohlklingenden vermeintlichen Segnungen zu überdecken. Denn bei aller “Wahl” und allen den Arbeitnehmern zugedachten Ansprüche: Flexibilisierung ist das nicht. Das bekommen die Arbeitnehmer sowieso. Denn – aber, siehe oben, die Demographie und der Markt richten das ohnehin!

Häufig – zu häufig – taucht das Wort der “Zeitsouveränität” auf. Woher kommt das eigentlich? Noch nicht einmal in Kraft getreten ist § 611a BGB “Arbeitnehmer ist, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen.” – und schon Schnee von gestern. Wegen Zeitsouveränität. Vielleicht muss man das einfach einmal sagen: die gibt es nicht, es gibt das arbeitgeberseitige Weisungsrecht, es gibt Arbeitszeitmodelle, es gibt bindende Betriebsvereinbarungen – freiwillig, ja, auf beiden Seiten freiwillig auch vieles darüber hinaus denkbare. Und – ich wiederhole mich – der Markt wird es richten.

Wir brauchen keine Gesetze mit neuen Ansprüchen auf “Wahlarbeitszeit und -ort”. Das werden die Arbeitnehmer selbst durchsetzen. Auch alleine, ohne Gesetzgeber.

Was wir brauchen, Arbeitnehmer und Unternehmer, sind flexible Rahmenbedingungen des Gesetzgebers. In dessen Rahmen dann die Tarifparteien oder Betriebsparteien oder aber individuell Lösungen auf die künftigen Anforderungen gefunden werden können. Anforderungen der Arbeitnehmer – und auch der Unternehmen.

Aber, das passiert vielleicht, wenn man auf einen Zug aufspringen möchte, der schon zu viel Fahrt aufgenommen hat: Blessuren bleiben nicht aus. Und so sind halt ein paar Artikel im Weißbuch arg verarztungsbedürftig.

Alexander R. Zumkeller, MBA, RA, Wirtschaftsmediator, ist Präsident des Bundesverbandes der Arbeitsrechtler in Unternehmen (www.bvau.de), der branchenübergreifenden, personenbezogenen und bundesweit tätigen Interessensvertretung für Arbeitsrechtler in Unternehmen. Nach 20 Jahren in Arbeitgeberverbänden, zuletzt als Geschäftsführer tätig, ist er seit 2007 bei der Deutschen ABB und heute dort Head of HRPolicies, Rewards & Benefits.

 
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