Prof. Dr. Peter Chrocziel: Neues Horizontalkartellrecht
Prof. Dr. Peter Chrocziel, Rechtsanwalt, München
Vor gut einem Jahr sind die neuen Gruppenfreistellungsvereinbarungen für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen ebenso wie für Spezialisierungsvereinbarungen in Kraft getreten (1. 7. 2023) – kurz danach auch die neuen Leitlinien zur Anwendbarkeit des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf solche Vereinbarungen über die horizontale Zusammenarbeit (21. 7. 2023).
Sehr schnell hatte sich die Meinung in der Presse, aber auch in Fachkreisen breit gemacht, dass durch die neuen Gruppenfreistellungsverordnungen letztlich nichts Neues aus Brüssel gekommen sei, sondern man dieselben Orientierungshilfen zur Selbstprüfung wie in den 12 Jahren davor vor sich habe – zumal tiefgreifende Änderungen im Kommissionsentwurf aus dem Jahre 2022 letztlich nicht übernommen wurden.
Diese Sicht der Dinge ist schon hinsichtlich der Regelungen für Marktanteilsschwellen und Kernbeschränkungen oder der Einbeziehung weiterer Parteien unzutreffend, aber auch für nunmehr vorgesehene Entziehungskompetenzen der Kommission und der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten.
Was aber noch wichtiger geworden ist als vielleicht in früheren Jahren, ist der gründliche Blick in die horizontalen Leitlinien, die nicht nur strukturelle Änderungen aufweisen (und neue Kapitel, z.B. zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen), sondern die durch die detaillierte Darstellung der diversen Bewertungsgesichtspunkte die Einarbeitung der Rechtsprechung (soweit vorhanden) und ausführlich überarbeitete und neue Beispiele nunmehr einen „Handkommentar“ für die Horizontalen Vereinbarungen darstellen. Rein äußerlich erkennt man die gewachsene Bedeutung schon daran, dass sich der Umfang der Leitlinien verdoppelt hat.
Für Unternehmen finden sich insbesondere im Hinblick auf die Behandlung und den Umgang mit Informationen umfangreiche und neue Ausführungen, die gerade im Hinblick auf die gewachsene Bedeutung der internen Compliance nicht nur die genaue Durchsicht, sondern auch die Anpassung von typisierten Abläufen erfordern.
Ob es zum Beispiel um Einkaufs- oder aber Vermarktungsvereinbarungen geht – die Leitlinien lassen keinen Zweifel daran, dass der grundsätzlich akzeptierte Informationsaustausch nur dann durch die Leitlinien gedeckt ist, wenn dieser objektiv notwendig ist. Hier wird es erforderlich sein, interne Vorgaben und Vorgänge einer Überprüfung zu unterziehen. Es findet sich in den Leitlinien ein separater Abschnitt (Kapitel 6: „Informationsaustausch“), der die verschiedenen Formen und unterschiedlichen Kontexte, in denen der Informationsaustausch stattfindet, untersucht.
Grundsätzlich ist es der Ansatz, dass ein Informationsaustausch als Nebenabrede zu einer Vereinbarung über horizontale Zusammenarbeit die nicht unter das Verbot von Art. 101 Abs. 1 fällt, nicht verboten ist, wenn diese für die Umsetzung der Vereinbarung objektiv notwendig ist und in einem angemessenen Verhältnis zu den Zielen der Vereinbarung steht.
Für die Kommission ist es ohne jede Bedeutung und sie sieht keinen Unterschied darin, ob der Informationsaustausch zwischen Personen oder durch die Nutzung von Algorithmen und Datenbanken geschieht, da diese wie ein Mitarbeiter beurteilt werden. Der Algorithmus steht unter der Kontrolle des Unternehmens und somit ist das Unternehmen auch dafür haftbar.
Wie zuvor schon kommt es immer auf die Qualität und das Alter der Informationen an. Hierzu gibt die Kommission zahlreiche Beispiele, um es den Unternehmen zu erleichtern, wie mit sensiblen Geschäftsinformationen umzugehen ist.
Zur wettbewerbsrechtlichen Beurteilung der Zulässigkeit des Austausches sensibler Geschäftsinformationen gibt die Kommission sodann klare Vorgaben, wann es sich um einseitige Offenlegung handelt oder ein indirekter Informationsaustausch über einen Dritten stattfindet. Ebenso wird nicht nur das Alter der Informationen, sondern auch die Häufigkeit des Austausches zur Beurteilung herangezogen.
Die angesprochene Änderung von internen Geschäftsabläufen wird durch vorgeschlagene Maßnahmen unterlegt, wenn Unternehmen denn sensible Geschäftsinformationen austauschen müssen oder auch nur wollen. Neben der Beschränkung auf den Austausch im erforderlichen Maß schlägt die Kommission so genannte Clean Teams oder Trustees vor, die eingesetzt werden sollen, wenn es um solche sensiblen Geschäftsinformationen – zum Beispiel im Bereich einer Unternehmensakquisition durch Due Diligence oder die Beteiligung an einem Datenpool – geht. Gerade die Übertragung an einen Trustee, der strengen Vertraulichkeitsregeln unterliegt, kann hier den Unternehmen die erforderliche Sicherheit verschaffen. Auch das bereits in der Vergangenheit schon eingeführte Prozedere, dass ein spezialisierter Anwalt sämtliche Sitzungen begleitet, die Tagesordnung kontrolliert und über die Sitzung ein Protokoll erstellt, kann hier weiterhelfen. Ganz abgesehen davon, dass dieser Dritte jederzeit eingreifen wird, sollten die zulässigen Grenzen überschritten werden.
Neben vielen Beispielen, wie der Informationsaustausch wettbewerbskonform erfolgen soll, bietet die Kommission zum Schluss dieses Teiles der Leitlinien noch eine sehr praktische Übersicht der Schritte zur Selbstprüfung für Unternehmen, die Informationen austauschen wollen.
Alles in allem wäre es mehr als überfällig, dass in den Unternehmen durch die Compliancebeauftragten bestehende Verfahren zur Sammlung, Aufbereitung und zum Austausch von Informationen unter Hinzuziehung der Vorgaben der Leitlinien überprüft und – was sicherlich nicht so selten der Fall sein wird – angepasst und verändert werden.
Die Leitlinien für horizontale Vereinbarungen bieten dafür klare und umsetzbare Vorgaben.