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EWS-Standpunkte
22.08.2014
EWS-Standpunkte
Europäisches Zivilprozessrecht: EuGVVO: Neueste Entwicklungen zum ordre public-Vorbehalt

A_Sujecki, Bartosz
Der ordre public-Vorbehalt stellt innerhalb der Anerkennungsversagungsgründe der EuGVVO das ultimative Mittel dar, die Anerkennung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung zu versagen. Dieser in Art. 34 Nr. 1 EuGVVO geregelte Vorbehalt hat die Funktion, grundlegende Gerechtigkeitsvorstellungen im Europäischen Justizraum zu schützen. Der Ausnahmecharakter des ordre public-Vorbehalts im Rahmen der EuGVVO wird zudem dadurch verstärkt, dass nur „offensichtliche“ Verstöße zu einer Versagung der Anerkennung führen. Im Rahmen der Durchsetzung unbestrittener Forderungen nach der EuVTVO oder der EuMVVO wurde der ordre public-Vorbehalt insgesamt abgeschafft. Dies hat der BGH in einer aktuellen Entscheidung für die EuVTVO noch ausdrücklich festgestellt (vgl. BGH, 24. 4. 2014 – VII ZB 28/13).

 

Der Begriff ordre public ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, so dass er vom EuGH nicht gemeinschaftsautonom ausgelegt werden kann. Welchen Inhalt die öffentliche Ordnung hat bzw. haben muss, wird vielmehr von den Mitgliedstaaten selbst bestimmt. Dieses bedeutet allerdings nicht, dass die Ausfüllung dieser Vorbehaltsklausel allein den Mitgliedstaaten überlassen wird. Dies würde nämlich dem Integrationsprozess des Europäischen Zivilverfahrensrechts zuwiderlaufen. Aus diesem Grund bestimmt zwar der EuGH nicht den Inhalt des ordre public-Vorbehalts, allerdings wacht er über die Grenzen, innerhalb deren sich die staatlichen Gerichte auf diesen Begriff stützen, um die Anerkennung einer Entscheidung eines Gerichts aus einem anderen Mitgliedstaates zu versagen. Darüber hinaus hat der EuGH auch die Kompetenz für die Auslegung und Konkretisierung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des europäischen ordre public.

 

In der Vergangenheit hatte der EuGH in nur wenigen Entscheidungen die Möglichkeit, den ordre public-Vorbehalt näher zu konkretisieren. In einem derzeit beim EuGH anhängigen Vorabentscheidungsersuchen des lettischen Obersten Gerichtshof hat Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen sehr interessante Ausführungen zum Inhalt des ordre public-Vorbehalts nach Art. 34 Nr. 1 EuGVVO bei der Anerkennung von Sicherungsmaßnahmen gemacht (vgl. GA Kokott, Schlussanträge v 3. 7. 2014 – Rs. C-302/13, AS flyLAL-Lithuanian Airlines .

Das lettische Gericht wollte vom EuGH wissen, ob der ordre public-Vorbehalt der Anerkennung einer Entscheidung über einstweilige Sicherungsmaßnahmen widerspricht, wenn erstens die Höhe des beträchtlichen, im Wege der vorläufigen Beschlagnahme gesicherten Betrages nicht begründet wurde und zweitens ein nicht wiedergutzumachender Schaden zu entstehen droht, wodurch die wirtschaftlichen Interessen des Staates, in dem die Anerkennung beantragt wird, berührt würden und folglich die Sicherheit des Staates ernsthaft gefährdet werden könnte. Diesem Vorabentscheidungsersuchen liegt die Klage einer litauischen Fluggesellschaft gegen eine lettische Fluggesellschaft sowie eine mit der Verwaltung des Flughafens von Riga beauftragte Kapitalgesellschaft wegen des Verstoßes gegen das europäische Wettbewerbsrecht zugrunde. Im Rahmen dieses Rechtsstreits wurde durch ein litauisches Gericht eine einstweilige Sicherungsmaßnahme erlassen, mit der die Vermögenswerte der Beklagten in Höhe des eingeklagten Betrags beschlagnahmt wurden. Die Klägerin begehrte anschließend, diese einstweilige Sicherungsmaßnahme in Lettland zu vollstrecken. Im Rahmen dieses Verfahrens stand neben der Frage, ob es sich bei einer derartigen Klage wegen Verstoßes gegen europäisches Wettbewerbsrecht überhaupt um ein Zivil- und Handelssache im Sinne des Art. 1 EuGVVO handelt, auch die Auslegung des ordre public-Vorbehalts im Mittelpunkt.

In Bezug auf den ordre public-Vorbehalt hat Generalanwältin Kokott zunächst eine Übersicht über die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu diesem Themenbereich gegeben. Als Schlussfolgerung daraus ergibt sich , dass es sich bei einem Verstoß gegen den ordre public-Vorbehalt um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaates als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln muss. Somit kommt nicht jede Verletzung einer nationalen Vorschrift des Vollstreckungsmitgliedstaates in Betracht, sondern nur eine offensichtliche Verletzung der in der EMRK bzw. in der Unionsrechtsordnung anerkannten Grundrechte.

Nach diesen allgemeinen Ausführungen ging die Generalanwältin Kokott nachfolgend auf die Vorlagefrage ein, ob das Fehlen einer eingehenden Begründungdes mit einer einstweiligen Sicherungsmaßnahme geltend gemachten Beschlagnahmebetrags zu einem Verstoß gegen den ordre public des Vollstreckungsstaates führen kann. In ihrer Antwort wies die Generalanwältin zunächst darauf hin, dass sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK grundsätzlich die Pflicht zur Begründung einer gerichtlichen Entscheidung ergibt. Allerdings dürfe die Beschlagnahmeanordnung nicht isoliert betrachtet werden. Vielmehr müsse das Gesamtgepräge der fraglichen Entscheidung einschließlich ihrer Anlagen in den Blick genommen werden. Darüber hinaus komme es bei einem Verstoß gegen den ordre public auch darauf an, ob für den Adressaten der Entscheidung die Möglichkeit bestand, im Entscheidungsstaat in zumutbarer Weise ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung einzulegen und den vermeintlichen Verstoß zu rügen. Aus diesem Grund lehnte die im vorliegenden Fall einen Verstoß gegen den ordre public-Vorbehalt ab, da der Beschlagnahmeanordnung ein Gutachten als Anlage beigefügt war, in dem die Höhe des Beschlagnahmebetrages näher erläutert wurde. Zudem konnte im Rahmen der einstweiligen Sicherungsmaßnahme auch ein Rechtsmittel eingelegt werden, so dass damit die Grundsätze des fairen Verfahrens gewahrt wurden.

Generalanwältin Kokott hat anschließend auch im Hinblick auf die zweite Teilfrage eine Verletzung des ordre public abgelehnt. Da der ordre public-Vorbehalt die Verhinderung einer offensichtlichen Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaates als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts bezweckt, schützt der ordre public-Vorbehalt nur rechtliche oder jedenfalls in einer Rechtsnorm zum Ausdruck kommende Interessen, die die politische, ökonomische, soziale oder kulturelle Ordnung des jeweiligen Mitgliedstaates betreffen. Dagegen werden rein wirtschaftliche Interessen, wie z. B. die Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens, nicht durch den ordre public-Vorbehalt geschützt. Dieses gilt selbst bei einer drohenden Staatsverarmung, da wirtschaftliche Erwägungen bei der ordre public-Betrachtung grundsätzlich wesensfremd sind.

DieSchlussanträge von Generalanwältin Kokott, denen ohne weiteres zugestimmt werden kann, zeigen erneut den Ausnahmecharakter des ordre public-Vorbehalts. Auch wenn vielfach in der gerichtlichen Praxis eine Berufung auf den ordre public-Vorbehalt vorgenommen wird, sind die Erfolgsaussichten – zu Recht – äußerst gering. Denn der ordre public-Vorbehalt soll nur in äußersten Ausnahmefällen zu einer Versagung der Vollstreckung führen.

 

Dr. Bartosz Sujecki, Rechtsanwalt und Advocaat, Bavelaar Advocaten, Amsterdam Niederlande

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